Als geborene Nützsche und bekennende Christin war Friedrich Nietzsches Geist für mich eine Herausforderung, der ich mich nur mit der Hilfe Rudolf Steiners zu stellen wagte.
Wie sehr war ich, die ich ein Buch mit dem Titel "Gott is(s)t Honig" geschrieben habe, erstaunt, als ich im ersten Teil des Buches las, was Rudolf Steiner Friedrich Nietzsche zuschrieb: "Er ist kein philosophischer Kopf, sondern ein 'Honigsammler des Geistes', der die 'Bienenkörbe' der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht, was dem Leben frommt."
So sehr ich mich bemüht habe, einen gravierenden Unterschied zwischen Nietzsches Geist und meinem konnte ich nicht finden.
Nach Nietzsche wandelt sich der Geist vom dienenden Kamel zum auflehnenden Löwen und schließlich zum unschuldigen Kind, welches die Welt unvoreingenommen betrachtet und das Leben darin wie Dionysis feiert.
"Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzusteigen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung." Nietzsche, Die Geburt der Tragödie
"Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." Marcus 10,15
Sprachlos erobert sich das singende und tanzende Kind das Gottesreich, welches Nietzsche als höhere Wirklichkeit bezeichnet, und wird dadurch zum Übermenschen, der im Schöpfer des kategorischen Imperativs und seiner Sittlichkeit nur einen verwachsenen Begriffskrüppel sehen kann und die Wahrheit des Atheisten als Ideal entlarvt, der er sich ebenso unterwirft wie der Christ einem Gott außerhalb seines Geistes.
"Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach Ihrem Warum fragen darf."
Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Die kausale Frage des Verstandes nach dem Warum weicht der Zielorientiertheit der sinnlichen und geistigen Triebe.
Nach Steiner forscht der dionysische Weise nicht, weil er Macht haben will, sondern er schafft.
Widerstände sind ihm auf seinem Weg willkommen. Steiner interpretiert Nietzsche, indem er sagt: "Der Starke liebt den Krieg, denn er braucht den Krieg, um seine Schöpfungen gegen die widerstrebenden Mächte durchzusetzen."
Mitleid schwächt, weil es zu erhalten sucht, was überwunden werden soll, nämlich Leid und Schwäche.
"Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, ..." Steiner, Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit
Letztlich geht es bei den Widerständen jedoch nur darum, sie in christliche Nächstenliebe bzw. Feindesliebe zu wandeln, indem man sich ihnen hingibt, indem man dem Feind auch die andere Backe hinhält.
"Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“
Carl Sandburg, irrtümlich Bertolt Brecht zugeschoben
Weil Nietzsche die Moral des Christentums so vehement ablehnte, fand er die Liebe nicht, die es in sich birgt. Steiner schreibt: "Er hat deshalb die Bedeutung des Bewußtseins für die Persönlichkeit unterschätzt."
Der höchste Wert des Buches "Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit" liegt für mich darin, dass Rudolf Steiner am Ende Nietzsche durch Zarathustra sprechen lässt, "siehe, wir wissen ..., daß alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und daß wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns", diese Aussage aber nicht bewertet.
Nietzsche lehnte das Jenseits ab, während Steiner dafür einstand. Welche Größe zeigt Letzterer, wenn er offen lässt, was offen ist.
Ich verneige mich mit Seelenruhe vor zwei großen Geistern, die dem meinem nicht so unähnlich sind.
Vera Seidl