Unterlassene Hilfeleistung.
von Gulan
Kurzmeinung: Ein echtes Verbrechen als Basis für eine Sozialstudie. Ambitioniert, aber durchaus geglückt.
Rezension
Bei einigen kann sie das Weiß der Augäpfel sehen.
„Hilfe“, sagt sie. „So hilf mir doch jemand.“ (S. 89)
Katrina Marino kommt mitten in der Nacht von ihrem Job nach Hause. Sie wohnt im Erdgeschoss eines Apartmentkomplexes in New York. Im Innenhof, direkt vor ihrer Haustür, wird sie von einem Unbekannten überfallen und niedergestochen. Trotz der späten Stunde sind noch viele ihrer Nachbarn wach. Das Verbrechen bleibt nicht ungehört, doch das Unfassbare geschieht: Niemand kommt Katrina zur Hilfe.
Ryan David Jahn benutzt für seinen Debütroman aus dem Jahr 2009 als Basis eine wahre Begebenheit: Den Mordfall Kitty Genovese, einen der wohl berühmtesten Kriminalfälle. Am 13.03.1964 wurde die 28 Jahre alte Barmanagerin nachts in der Nähe ihrer Wohnung in einem Apartmentkomplex in New Yorker Stadtteil Queens von ihrem Mörder Winston Moseley niedergestochen und vergewaltigt. Moseley wurde zwischendurch gestört und flüchtete, kehrte aber nach einigen Minuten zurück und vollendete seine Tat. Insgesamt dauerte das Verbrechen mehr als eine halbe Stunde. Kitty Genovese lebte noch bei Eintreffen des Krankenwagens, verstarb aber auf dem Weg ins Krankenhaus. Warum der Fall weltweite Berühmtheit erlangte, ist die Tatsache, dass mindestens 38 Personen Teile des Verbrechens wahrgenommen hatten, aber niemand eingriff. Auch die Polizei wurde erst nach 35 Minuten gerufen. Eine große Diskussion über mangelnde Zivilcourage und Gefühlskälte brach in Amerika los, nachdem die New York Times mit der Schlagzeile aufwartete: „Thirty-eight who saw murder didn't call the police“. Durch den Fall Genovese wurden psychologische Studien angeregt, die sich intensiv mit dem Zuschauer- oder Bystandereffekt beschäftigten, der besagt, dass einzelne Augenzeugen eines Unfalls oder Verbrechens mit geringerer Wahrscheinlichkeit helfend eingreifen, wenn weitere Personen ebenfalls dabei stehen.
Das Buch umfasst etwa zwei Stunden erzählte Zeit und wird multiperspektivisch im Präsens erzählt. Zunächst begleitet der Leser Katrina Marino durch den ersten Kapitel bis zur ersten Attacke. Doch dann wechselt Jahn zu mehreren verschiedenen Personen, die mit diesem Verbrechen in Berührung kommen werden. Darunter sind ein korrupter Polizist, ein Nachbar, der bei Katrinas Eintreffen den Parkplatz verlässt und sie knapp zwei Stunden später finden wird, ein Rettungssanitäter, der Mörder, aber vor allem eine ganze Reihe von Nachbarn. Sie alle bekommen etwas vom Geschehen mit, aber unternehmen nichts, zum einen überblicken sie die Tragweite des Verbrechens nicht, zum anderen gehen sie davon aus, dass ein anderer Hilfe verständigt, einige sind auch einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
So betreibt Jahn über seine Figuren eine Art Gesellschaftsstudie eines Amerika in den 1960ern: Korrupte Polizei, Rassismus, Homosexualität, selbstbestimmtes Sterben, Ehebruch, Kindesmissbrauch. Die Themen werden teilweise nur kurz angeschnitten und können so ihre Wucht nur bedingt entfachen. Obwohl gut gemacht, fand es irgendwie zu viel.
Die stärksten Momente hat „Ein Akt der Gewalt“ für mich sowieso bei den Kapiteln mit Katrina. Vor allem da man weiß, dass der Autor hier einen wahren Fall aufgreift. Das Martyrium der jungen Frau, die allein in ihrem Blut liegt und um Hilfe fleht, die leben will und noch schwerverletzt durchhält bis der Krankenwagen eintrifft, um dann doch vorm Eintreffen im Krankenhaus zu versterben – diese Tragik kann der Autor überzeugend transportieren und lässt den Leser durchaus erschüttert zurück.