Unter einem gekrümmten Raum habe ich mir bisher so ziemlich gar nichts vorstellen können, doch als ich jetzt lese, „dass das Licht der Sterne im Zentrum des Sternbilds Stier, die 153 Lichtjahre entfernt sind, seine Bahn ändert, wenn es in die Nähe der Sonne gelangt, und die Sterne damit nicht mehr in ihrer üblichen Himmelsposition erscheinen“ und es dafür nur eine plausible Erklärung geben kann: „Die Sonne bewirkte eine Krümmung des Raums.“, kann ich mir etwas darunter vorstellen.
Autor Samuel Graydon, Wissenschaftsredakteur des Times Literary Supplement, ist ein begabter Schreiber, der Einstein nicht nur als allergisch gegenüber Autoritäten und Dogmen schildert, sondern auch als einen Mann, der früh die Erfahrung machte, dass ihm der Garten, der zum Haus der Familie in München gehörte, „eine Art paradiesische Freude schenkte“. Dabei wurde er sich auch bewusst über „die Nichtigkeit des Hoffens und Strebens (...), das die meisten Menschen rastlos durchs Leben jagt.“
Nach dem nicht gerade glänzenden Abschluss seines Physikstudiums an der ETH Zürich, war ihm eine Universitätsanstellung verwehrt. Er musste schliesslich froh sein, schliesslich hatte er Frau und Kind zu ernähren, eine Anstellung beim Patentamt in Bern zu finden. In dieser Zeit schrieb er auch seine bahnbrechenden Arbeiten über die Relativitätstheorie, die die Physik auf den Kopf stellte. In der Folge wurde er Privatdozent an der Universität Bern, später Professor an der Universität Zürich.
Es war ein steiniger Weg, der auch darin begründet war, dass Einsteins Naturell mit den gängigen Gepflogenheiten alles andere als konform ging.
Einstein. Ein Leben in 99 Teilchen, in 99 kurze Kapitel gegliedert, ist ein ungemein anregendes Buch, bei dem man den Menschen Einstein unmittelbar vor Augen zu haben glaubt. Etwa sein Buhlen um Frauen. Oder sein unorthodoxes Unterrichten, das den Studenten einen seltenen Einblick in einen wissenschaftlichen Denkprozess verschaffte. Oder sein Eintreten für Marie Curie. Oder für Friedrich Adler. Oder ...
Im März 2011 zog es Einstein nach Prag, wo man ihm eine ordentliche Professur angetragen hatte. Dort lernte er auch den Kafka-Vertrauten Max Brod kennen, der gerade an einer Kepler-Biografie arbeitete. „Brods Kepler ist ein Mann, der für das normale Leben nicht erreichbar ist; ein ruhiger, der Wissenschaft und der Wahrheit verpflichteter Mensch. Als der deutsche Chemiker Walther Nernst den Roman las, habe er zu Einstein gesagt, 'Dieser Kepler, das sind Sie.'“ Einstein. Ein Leben in 99 Teilchen ist reich an solch erhellenden Anekdoten.
Im Jahr darauf kam er zurück nach Zürich, ein Jahr später erreichte ihn ein sehr grosszügiges Angebot aus Berlin ... doch ich will hier nicht das Buch nacherzählen, sondern davon berichten, was dieses Werk für mich wertvoll macht: Das Nebeneinander von Einsteins Werdegang, seinen Eigenheiten, seinem liebenswürdigem Charakter, seinen Erkenntnissen sowie dem Gewahrwerden des grösseren Ganzen.
Letzteres meint insbesondere, dass im frühen 20. Jahrhundert die Astronomen keine Ahnung davon hatten, dass das Universum grösser als die Milchstrasse ist. „Es war Konsens unter den Physikern der Zeit, inklusive Einstein, dass der Kosmos statisch und ohne Anfang und Ende ist.“ Doch dann entdeckte 1924 der Astronom Edwin Hubble eine Galaxie ausserhalb der Milchstrasse: Andromeda. Und unser Weltbild veränderte sich. Wir wissen heute: Das Universum weitet sich aus, jede Galaxie zieht die andere an. Und wir wissen auch, dass wir immer noch vor vielen Rätseln stehen.
Einstein. Ein Leben in 99 Teilchen lehrt einen Verblüffendes, etwa dass Einstein gerade mal 26 Jahre alt war, als er die Spezielle Relativitätstheorie, und erst 36 Jahre alt, als er die Allgemeine Relativitätstheorie entdeckte. Und dass er in späteren Jahren weniger als Physiker, denn als für den Frieden engagiert in Erscheinung trat, was ihn unter anderem dem FBI verdächtig machte, der ein umfängliches Dossier über ihn anlegte. Liest man Auszüge daraus, wundert man sich wieder einmal, was für Hohlköpfe bei den Geheimdiensten beschäftigt sind.
Samuel Graydon macht nicht zuletzt deutlich, dass „die Unverständlichkeit der Relativitätstheorie einen gewichtigen Teil ihrer Faszination“ ausmacht. So berichtet er etwa vom polnischen Physiker Ludwik Silberstein, der 1914 ein wichtiges Buch zur Relativitätstheorie verfasst hatte, und anlässlich einer Tagung zum Astronomen Arthur Stanley Eddington sagte, er dürfte einer von den weltweit drei Menschen sein, der die allgemeine Relativitätstheorie verstünde. Als Eddington abwiegelte, insistierte Silverstein: „Seien Sie nicht bescheiden, Eddington.“ „Im Gegenteil“, antwortete dieser. „Ich überlege, wer der dritte ist.“
Besonders faszinierend an diesem Werk ist, dass man quasi im Vorbeigehen mit Heisenbergs Unschärferelation, Baruch de Spinozas Gottesbegriff sowie Niels Bohrs Scharfsinn bekannt gemacht wird. Mit anderen Worten: Samuel Graydon nimmt uns auch mit auf eine Zeitreise, bringt uns das Ringen um Erkenntnis und Wahrheit näher, wobei sich zeigt, dass auch die hellsten Köpfe von Voreingenommenheiten geleitet werden. Als Einstein behauptete: „Gott würfelt nicht.“, hielt ihm Bohr entgegen: „Einstein, hören Sie auf, Gott zu sagen, was er tun soll.“
Zu meinen liebsten Anekdoten gehört die Begegnung Einsteins mit dem jungen Dramatiker Jerome Weidman. Dieser verfügte, seiner eigenen Einschätzung gemäss, über kein Musikgehör. Einstein wollte dies nicht akzeptieren und bemühte sich, den jungen Mann an die Musik heranzuführen, wobei er den grössten Teil eines Konzerts verpasste, was er gegenüber der Gastgeberin dahingehend begründete, dass er und sein junger Freund mit dem Grössten beschäftigt gewesen seien, wozu der Mensch fähig sei: „Die Grenze zur Schönheit ein klein wenig zu öffnen.“
Fazit: Smart, spannend, unterhaltsam und lehrreich.