Prager Frühling und eiserner Vorhang - die Geschichte einer Flucht...
von parden
Kurzmeinung: Prager Frühling und eiserner Vorhang: die Geschichte einer Familie und einer Flucht, ein Roman nach niedergeschriebenen Erinnerungen. Lesen!
Rezension
PRAGER FRÜHLING UND EISERNER VORHANG - DIE GESCHICHTE EINER FLUCHT...
Prag 1968: Wie viele andere Tschechen schöpft Pavel Vodák Hoffnung. Hoffnung auf Reformen, auf Freiheit, auf Demokratie. Dann rollen die Panzer und machen all seine Träume zunichte. Pavel will nicht, dass seine Tochter Pavla unter diesen Umständen aufwachsen muss. Sie soll frei denken und entscheiden können. Also plant er, mit seiner Familie aus der tschechischen Heimat nach Deutschland zu fliehen. Nachdem er an deutsche Pässe gelangt ist, folgt die größte Herausforderung: Denn seine schwer kranke Schwiegermutter und seine Tochter ahnen nichts von der Flucht. Sie glauben, die Familie fährt in einen Jugoslawienurlaub. Eine abenteuerliche Reise beginnt…
Doktor Pavel Vodák gilt 1970 als Koryphäe auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und ist sowohl als Chefarzt im Prager Institut als auch landesweit anerkannt. Doch er ist angzählt. Nicht aufgrund fehlender Fachlichkeit, sondern wegen politisch-menschlicher Ansichten, die dem Parteibuch zuwider sprechen.
Geprägt von Ereignissen im 2. Weltkrieg ist Pavel sensibilisiert hinsichtlich staatlicher Doktrin und des Zwangs der Anpassung. 1968 flammte die Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus auf, und Pavel gehörte zu denjenigen, die sich dafür engagierten. Der Einmarsch des Militärs der Sowjetunion sowie der Bruderstaaten im Prager Frühling zerschlugen die Hoffnung und hinterließen ein Land der Resignation und ein Klima des Misstrauens.
Parteitreue zahlte sich nun aus, und die bekannten Reformbestreber von 1968 waren entweder bereits verhaftet oder standen seither offenkundig unter Beobachtung. So auch Doktor Pavel Vodák, der 1970 nicht nur sich selbst und seine Ideale gefährdet sieht, sondern auch seine Familie. Was wäre z.B., wenn die Partei seiner hochbegabten Tochter verbieten würde zu studieren? Er sieht seine Zukunft und die seiner Familie nicht länger in der Tschechoslowakei - aber der Eiserne Vorhang ist unüberwindbar. Oder gibt es Hoffnung?
"Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." (Vaclav Havel)
Die Trauertherapeutin Sandra Brökel kam durch einen unglaublichen Zufall zu einem Koffer voller Notizen - den über zwei Jahre geschriebenen Erinnerungen von Doktor Pavel Vodák. Ausgerechnet mit dessen Tochter Pavli - später: Paula - war Sandra Brökel bis zu deren plötzlichem Tod befreundet. Und im Rahmen der gemeinsamen Aufarbeitung von Pavlis nicht einfacher Lebensgeschichte überließ diese der Autorin diesen Koffer.
Die Aufzeichnungen Doktor Pavel Vodáks zeichen ein eindrückliches Bild der Vergangenheit, ein erster Einschnitt im 2. Weltkrieg, die kommunistische Neuordnung danach, der Prager Frühling und schließlich die Flucht - einschließlich des Preises, den jedes Familienmitglied dafür zahlen musste.
Sandra Brökel schreibt in einfachen, klaren Sätzen, und trotz der Distanz, die ich die meiste Zeit über zu der Person Pavel Vodáks verspürte, gelang es ihr, die Dramatik und die Bedeutung des Entschlusses zur Flucht zu transportieren. Obschon mir der Ausgang dieser Flucht bereits im Vorfeld bekannt war, verspürte ich beim Lesen doch Aufregung, als es konkret wurde.
Ich empfand es als sehr positiv, dass Doktor Pavel Vodák hier nicht als makelloser Kämpfer für die Freiheit dargestellt wird, sondern als ein Mensch mit Stärken und Idealen auf der einen Seite, aber auch mit Fehlern und Schwächen auf der anderen. Gerade im Hinblick auf seine Familie zeigte er sich offenbar nicht immer feinfühlig, sondern beschränkte sich ganz auf seine persönliche Sichtweise. Seine Tochter Pavli litt darunter offensichtlich lange Zeit.
"Die Zeit schreitet unbeirrt voran, das Leben auch. Irgendwie. Wenn die Welt eines Menschen in Scherben liegt, kann er dem Trugschluss erliegen, alles sei dem Ende geweiht. Genau darin wartet ein Segen für die Zukunft. Wer ihn entdeckt, kann die Scherben zu einem neuen Mosaik zusammensetzen, das er irgendwann vielleicht sogar liebgewinnen kann." (S. 223)
Keine Biografie, sondern ein Roman sei dieses Buch, betont die Autorin, schriftstellerische Freiheiten inbegriffen. Das nicht nur im Titel erwähnte Krokodil ist eine Metapher - ein Bild der lauernden und plötzlich zuschnappenden (staatlichen) Gefahr, der man niemals den Rücken zuwenden sollte, und von der man keinesfalls glauben darf, dass sie womöglich eines Tages wirklich verschwunden ist. Angesichts des heutigen Rechtsrucks in Europa erschreckend wahr. Doktor Pavel Vodák hat den Begriff des Krokodils geprägt, die Autorin hat das Bild verfeinert und erweitert.
Ein eindrucksvoller, biografisch geprägter Roman, der wie nebenbei historische Ereignisse aus dem Schattendasein reiner Begrifflichkeiten herausholt und ihnen einen persönlichen Anstrich verleiht. Unbedingt lesenswert!
© Parden