Rezension zu "Helenes Stimme" von Sanne Jellings
„,Es müsste eine Schule für ältere Mädchen geben‘, sagte Marie nachdenklich. ,Eine Schule, in der mehr gelehrt wird als ein bisschen Rechnen und Schreiben und Französisch und Zeichnen.‘“
INHALT:
Eningen unter Achalm, 1864: Die 16-jährige Helene Lange wird nach dem Tod ihres Vaters für ein Jahr als dritte Pensionatstochter bei der Familie von Pfarrer Eifert untergebracht.
Marie, die 18-jährige, pflichtbewusste Tochter des Hauses, soll sich dem äußerst wissbegierigen Mädchen annehmen – beide teilen sich von nun an ein Zimmer.
Doch die Neue ist nicht auf den Kopf gefallen und muss schon bald feststellen, dass in dem Dorf bei Reutlingen, am Fuße der Schwäbischen Alb, strenge Regeln und Pflichten gelten, besonders für Frauen, die sich den Männern unterordnen sollen.
Dabei interessiert sich Helene brennend für Literatur und Politik! Wie gerne würde sie mehr darüber lernen und sich mit den Männern austauschen! Doch Frauen haben bei den Gesprächsrunden mit den Gästen im Pfarrhaus zu schweigen. „Sie sollten abhängig bleiben, nicht zu viel fragen, nicht zu viel wissen.“
„,Du darfst nichts sagen!‘, zischte sie ihr zu. ,Frauen sprechen nicht, wenn Männer reden, Vater wird sonst ungehalten.‘
Helene blieb stehen und sah sie verblüfft an. ,Warum nicht?‘
Nun war es an Marie, verblüfft zu sein. ,Die Frau schweige in der Gemeinde, sagt Paulus.‘“
Die Bildungsmöglichkeiten sind für Frauen noch nicht weit vorangeschritten. Und spätestens, wenn sie heiraten, haben sie ihren Platz am Herd.
Helene möchte das so nicht hinnehmen. Und auch Marie fühlt sich gefangen in ihrer Position: Sie soll bei den Eltern bleiben und für diese sorgen.
„Du sollst deinen Mitmenschen dort dienen, wohin dich der Herr gestellt hat. Du wirst uns doch nicht damit enttäuschen, dass du zuerst an dich selbst denkst,“ entgegnet ihr der Vater.
Marie muss erkennen, dass für sie kein eigenständiges Leben vorgesehen ist, nach dem sie sich so sehr sehnt …
„,Vater hat es ja gesagt: Ich bin hier, um Mutter zu helfen. Wie es mir dabei geht, interessiert ihn gar nicht. Man fragt eine Kuh ja auch nicht, ob sie gerne Milch gibt. Ich bin nicht dazu ausersehen, eine eigene Meinung und eigene Wünsche zu haben. Ich habe aber Wünsche! Das ist mir klar geworden.‘“
Denn plötzlich ist da noch Ludwig, der Studienkollege ihres Bruders Max aus Tübingen, der Marie den Kopf verdreht. Gemeinsam verbringen die jungen Leute viel Zeit an den Wochenenden, bis zu einem unschönen Vorfall, welcher das Leben der vier schlagartig für immer auf den Kopf stellen wird …
MEINUNG:
Helene Lange war mir bisher nur daher ein Begriff, da einige Schulen nach der Frauenrechtlerin benannt wurden.
Da ich gerne Romane mit starken Frauenfiguren lese und ich die Gegend kenne, in der das Buch überwiegend spielt, war für mich klar, dass ich das Buch lesen muss!
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, wobei Helenes Pensionatsjahr in Eningen klar im Mittelpunkt der Geschichte steht.
Auf einer späteren zeitlichen Ebene, bekommen Lesende einen groben Einblick, was sich anschließend im Leben von Helene und Marie ereignet hat.
Diese Herangehensweise hat mir gut gefallen, auch wenn es für mich gerne ein paar Zeitenwechsel weniger hätten sein können.
Sehr bewegend geschildert fand ich die damaligen beengten Verhältnisse, denen Frauen überwiegend ausgesetzt waren. Sie konnten kaum eigene Entscheidungen fällen, mussten sich den Männern unterordnen, hatten sich zurückzuhalten, konnten sich kaum Bildung aneignen und hatten ihre Aufgaben als Hausfrau, Ehefrau und Mutter zu erfüllen.
Da kann einem beim Lesen schon mal der Kragen platzen, da warne ich euch besser vor! Ich konnte sehr mit Helene und Marie mitfühlen. Man spürt beim Lesen die Enge, die sich wie eine Schlinge um den Hals immer weiter zuzieht und Marie die Luft zum Atmen raubt. Sie soll sich um die Eltern kümmern und ja nicht an sich selbst und ihre Zukunft denken. Bis sie keine Perspektive mehr sieht …
Das Buch ist dadurch immer wieder sehr bedrückend, gleichzeitig aber auch sehr eindrücklich. Es zeigt, wie wichtig es damals war, dass etwas in Sachen Frauenrechte und Bildungsmöglichkeiten bei Frauen in Bewegung gebracht wurde von Menschen, wie Helene Lange!
Einen dicken, persönlichen Bonus bekommt das Buch von mir für die Ortsbezogenheit. Ich mag Romane, die in Gegenden spielen, die ich kenne, und die lebendig in die Geschichte einbezogen werden. Das macht die Geschichte noch authentischer.
Nicht-Schwaben könnten bei einzelnen schwäbischen Sätzen Verständnisprobleme haben – ich persönlich fand sie sehr charmant!
Etwas schade ist, dass das meiste von der Handlung in Eningen, der Fantasie der Autorin entspringt. Gleichzeitig habe ich dafür aber auch Verständnis, da die Quellen aus dieser Zeit begrenzt sind.
Fest steht jedoch, dass Helene besagte Zeit scheinbar als mögliche „Geburtsstunde der ,Frauenrechtlerin‘“ in ihr bezeichnet hat. Daher war die Geschichte durchaus vorstellbar.
Insgesamt bin ich aber sehr begeistert von diesem Buch, ich habe es recht zügig gelesen und mir viele Zeilen daraus notiert.
FAZIT: Ein eindrücklicher Roman über die spätere Frauenrechtlerin Helene Lange und ihre möglichen Erlebnisse im Pensionatsjahr in Eningen bei einer Pfarrersfamilie. Helene Lange war eine bewundernswerte Frau, die sich für Gleichberechtigung und bessere Bildungs- und Berufschancen für Frauen einsetzte und das Bildungswesen für Frauen reformierte. Ein eindrucksvolles Buch, welches ich sehr gerne gelesen habe. Es klingt noch immer in mir nach … 4,5/5 Sterne und eine Empfehlung von mir!
(CN: Depressionen, Sexuelle Gewalt, Unterdrückung von Frauen)