"'Ndrangheta" von Sanne de Boer gibt einen wirklich guten Einblick in die Wirkungskreise und -weise der 'Ndrangheta, die ihre Finger in der Politik und Wirtschaft Deutschlands haben - und das nicht erst seit 2007.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Christine Burkhardt und Gerd Busse. Mit einem Vorwort von Petra Reski.
Sanne de Boer verlässt als junge Frau Amsterdam, um ihrer Italiensucht nachzukommen. Es zieht sie ganz in den Süden Italiens, ins sonnengeküsste Kalabrien. Damals wusste sie noch nicht, was es mit der 'Ndrangheta auf sich hat. Doch schon bald findet de Boer heraus, dass die 'Ndrangheta für organisierte Kriminalität als Erfolgsmodell schlechthin fungiert. Sie ist föderal organisiert und damit wesentlich flexibler als die sizilianische Cosa Nostra.
Die Strukturen der Mafia fand ich schon immer sehr interessant und ich habe auch das ein oder andere Buch dazu schon gelesen, bisher aber ausschließlich zur Cosa Nostra - also dem sizilianischen Zweig der Mafia. Die Einblicke und Erkenntnisse, die ich daraus gewinnen konnte, haben mich immer genauso stark fasziniert, wie sich mich erschrocken haben. So ging es mir nun auch mit den Einblicken, die Sanne de Boer in die kalabresische Mafia gewährt. Ich bin fasziniert wie abgestoßen zugleich. Die Faszination begründete sich sicherlich auch auf romantischen Vorstellungen, aber auch auf den Zusammenhalt und die Loyalität, ihre eigenen Werte und Traditionen, die mir fremd sind. Was mich abstößt sind hingegen die Praktiken: Es geht um Erpressung, Bestechung, Drohung und im Bezug auf Verräter aus den eigenen Reihen um bestialische Morde. Ohne Gnade.
Überwiegend mischt die 'Ndrangheta bei der illegalen Müllbeseitigung mit, dem Drogenhandel (der größte Teil ihrer Drogengeschäfte läuft über die niederländischen Häfen), dem Lebensmittelhandel und dem Gesundheitswesen.
Besonders interessant finde ich auch, dass Deutschland für die 'Ndrangheta das wichtigste europäische Land ist. Denn nirgendwo sonst ist Geldwäsche in so großem Stil möglich wie bei uns.
Am Erstaunlichsten fand ich, dass Journalisten, die in Deutschland aufgrund irgendwelcher Publikationen (Artikel, Bücher...) von der Mafia verklagt werden, hier immer verlieren, selbst wenn sie ihre Vorwürfe belegen können. In Italien hingegen verlieren die Enthüllungsjournalisten fast nie, wenn die Mafia sie anklagt, solange sie ihre Aussagen belegen können. Und das obwohl Italien in Bezug auf die Pressefreiheit weit hinter Deutschland und den Niederlanden rangiert. Das macht doch sehr nachdenklich.
Die Investigativjournalistin Petra Reski schrieb nach den Morden in Duisburg, die im August 2007 stattfanden, das Buch "Mafia: von Paten, Pizzerien und falschen Priestern", in dem es um die kalabresische Mafia geht. Die Enthüllungen in jenem Buch gingen einigen italienischen Geschäftsleuten gegen den Strich und sie verklagten Reski. Einer der Kläger war ein Kalabrese dem ein Duisburger Luxushotel gehört und der beste Beziehungen zur High-Society und Politikern hat. So ist es wohl kaum verwunderlich, dass ein deutscher Richter diese Anklagen zuließ und dafür sorgte, dass das Buch zensiert werden musste und mit diesen geschwärzten Passagen nachgedruckt wurde. Ein Fakt, der in Italien selbst für Kopfschütteln und Erstaunen sorgte. Die Schwärzungen finden sich auch in den Übersetzungen auf niederländisch, englisch, spanisch und polnisch. Der erwähnte Ankläger Reskis hat so gute Verbindungen, dass er für sein Luxushotel nicht nur die Genehmigung bekam in einem Naturschutzgebiet zu bauen, nein, er bekam sogar finanzielle Unterstützung (inkl. europäischer Fördergelder)!
Während in Italien das strenge Anti-Mafia-Gesetzt seine Wirkung zeigt, zieht es die Clans vermehrt nach Deutschland und die Niederlande. Hier gibt es keine Gesetze dagegen, ganz im Gegenteil: Man scheint gewissermaßen von der Mafia zu profitieren...
Weitere Beispiele dazu, wie Journalisten in Deutschland gegen die Mafia klein beigeben müssen, findet man bei dem Journalisten Jürgen Roth, in dessen Fall sogar die Buchhändler bedroht wurden, oder auch im Fall des Präsidenten der Antimafia-Kommission des italienischen Parlaments Francesco Forgione, dessen Buch in der deutschen Übersetzung ebenso geschwärzt werden musste wie Reskis. Das zeigt mir ganz deutlich, dass die Pressefreiheit nichts wert ist, wenn man einen investigativen Artikel über jemanden schreibt, der Freunde in der Politik oder bei einer der drei großen Medienfamilien (Fam. Springer, Fam. Mohn und Fam. Burda) hat, die ihrerseits sämtliche deutschen Medien im Griff haben...
Sanne de Boer
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Ndrangheta
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Rezension zu "Ndrangheta" von Sanne de Boer
«Die Tyrhenische Küste war unter verschiedene Clans aufgeteilt. Manchmal musste er für ein und denselben Auftrag gleich drei Mal ‹pizzo› bezahlen: Zuerst an einen Clan aus Palmi, der Stadt, in der sich seine Firma befand, ein zweites Mal an einen Clan des Gebiets, das er durchquerte und drittens an einen Clan aus der Gemeinde, in der er Arbeiten ausführte.»
Der bisher größte Prozess gegen die 'Ndrangheta, die mächtigste Mafia Europas, läuft seit Januar 2021 in Italien und zieht Aufmerksamkeit aus aller Welt auf sich. Und vielleicht wacht Europa endlich auf. Denn die 'Ndrangheta ist schon lange kein rein italienisches Problem mehr, sondern betrifft ganz Europa. Und damit unser aller Leben. Die «Krake aus Kalabrien» hat ihre Finger überall im Spiel: illegale Müllentsorgung, ein lohnendes Geschäft, Drogengeld, das in Immobilien, Restaurants, Luxusartikelverkauf und überall, wo viel Bargeld fließen kann, sauber gewaschen wird. Mutig berichtet die Journalistin Sanne de Boer über das System die Verflechtung der mafiösen Gruppe aus Kalabrien.
«Die Mafia wächst und gedeiht, eben weil sie Teil der Gesellschaft ist.»
Sanne de Boer zog 2006 in ein Dorf ins schöne Kalabrien, mitten ins Herz der 'Ndrangheta, die sie nicht kannte. Mafia, die Camorra im Gebiet um Neapel, die Cosa Nostra auf Sizilien sowie die Sacra Corona Unita in Apulien, davon hatte jeder einmal gehört. Doch die Kalabrier blieben versteckt immer unauffällig unter dem Schirm. Mafia gibt es in unserem Dorf nicht, hatte man der Journalistin gesagt. Bis eines Tages der Wagen der Nachbarin abbrannte … Die erzählte ihr, sie werde in der Stadtverwaltung bedrängt, Gefälligkeiten auszustellen, sie bearbeite Bauanträge. Mit ihr aber nicht! Bevor es jetzt gefährlich wird, werde sie sich einen neuen Job suchen. Denen nachgeben? Auf keinen Fall. Sanne de Boer horchte auf und begann zu forschen. Ihr Kalabrien hatte einen Knacks bekommen, der sich später zum Sprung in der Schüssel ausweiten wird. Angefangen hatte die 'Ndrangheta mit professionellen Entführungen, «Bauern und Schafhirten mit kriminellen Neigungen», «Meister der Entführung», «Volksstamm mit einer eigenen Religion und einem eigenen Lebensstil». Man entführte Männer, Söhne, Frauen und versteckte sie in alten Schafställen in den unübersichtlichen Bergen, verlangte ein sattes Lösegeld. Manche Opfer mussten jahrelang in ihrem Gefängnis ausharren, bis die Familie das Geld zusammenhatte und bezahlte. Arme Bauern verdienten sich mit diesem gewissenlosen Geschäft etwas dazu, wenn sie die Entführungsopfer versorgten, Verstecke für sie bereithielten. Menschen, die mit Gewalt aufwachsen: gewalttätige Väter, gewalttätige Gutsherren, die Unterwerfung verlangen. Wer nicht mitspielt, wird von Kugeln durchsiebt. Und wer Anerkennung haben möchte, ein wenig Macht besitzen möchte, der kommt in der Armutsgegend nur über diesen Weg weiter. Erpressung, Bedrohung; jeder weiß, was nach einem abgefackelten Auto als nächstes kommt.
«Die schwelenden Abfallberge grenzen an landwirtschaftlich genutzte Flächen … Allmählich sind das Grundwasser, die Luft und die Nahrung derart vergiftet, dass die Krebsrate bei den Bewohnern in dem Gebiet auffällig gestiegen ist.»
Die Journalistin befragt Zeugen, Staatsanwälte, recherchiert in der Hauptsache durch Interviews. Sie berichtet über Korruption, Verflechtungen mit der Politik, dem Vatikan, Wirtschaft. Sehr interessant ist das Spiel der Kirche im Umgang mit Mafia-Gruppen, hier sehr gut beschrieben. Mutige Menschen, wie Staatsanwalt Nicola Gratteri, Journalisten wie Roberto Saviano und Lirio Abbate können ihr altes Leben nicht mehr weiterführen, denn sie und ihre Familien werden rund um die Uhr überwacht, weil sie um ihr Leben fürchten. Andere Staatsanwälte, Richter und Journalisten haben ihr Leben bereits lassen müssen. Illegale Müllentsorgung – irgendwo in die Landschaft geschüttet, oft auch noch angezündet. Ganze Landstriche sind vergiftet. Der Müll kommt aus ganz Europa! Und die Tomaten, die daneben wachsen landen in Dosen und in den Gemüseabteilungen von ganz Europa. Giftfässer landen in Steinbrüchen, Seen, Flüssen und im Meer. «Ökomafia» nennt man das lukrative Geschäftsfeld. Geldwäsche lohnt sich in den Niederlanden, in Deutschland und in der Schweiz absolut. In Italien gibt es ein Antimafiagesetz und die meisten europäischen Länder haben Gesetze, die die Bargeldzahlung einschränken, schon wegen der Schwarzarbeit. Viele Länder haben die Beweislast umgekehrt, nicht so diese Länder. Denn es macht einen Unterschied, ob der Staatsanwalt dem Kriminellen nachweisen muss, etwas mit illegalem Geld gekauft zu haben oder ob der Kriminelle nachweisen muss, mit welchen legalen Geldern er Villa und Porsche bezahlt hat. Was nützt es, wenn Banken usw. Korruptionsverdacht an die Behörden melden, die aber nicht genug Mitarbeiter haben, um den Meldungen zeitnah nachzugehen?
«Vor zwanzig Jahren hat der Mafioso dem Politiker ein Paket Stimmen im Tausch gegen Aufträge angeboten. Heute sind es die Politiker, die Kandidaten bei Wahlen, die selbst bei den Mafiosi zu Hause anrufen und im Tausch gegen Aufträge um Stimmen bitten.»
«Warum wenden sich Politiker an Mafiosi. Weil die Mafiosi bei der Bevölkerung glaubwürdiger sind als sie.»
Gern wird organisierte Kriminalität in der Literatur oder im Film romantisiert. Aber hier gibt es keine «Sopranos», keinen «Paten» in schicken Anzügen, Champagner trinkend, sondern ein aus Gewalt zusammengefügtes Konstrukt, das extrem hierarisch und unauffällig aufgebaut ist, mit absoluter Untergebenheit – und genau darum funktioniert es. Die Mitglieder leben unter dem Radar, sehr geräuschlos, sind Taxifahrer, Busfahrer, Kioskbesitzer usw. wohnen in kleinen Mietwohnungen, tragen farblose Alltagskleidung. Niemand würde hinter diesen grauen Mäusen Böses vermuten – schon gar kein Kapital. Diese Gruppe nannte sich zunächst Picciotteria, später 'Ndrangheta und für ihren Schutz zahlt man ‹pizzo›. Ab den 1950er Jahren weiteten sie ihr Geschäft stetig aus: Entführungen von Mitgliedern betuchter Familien, Erpressung und so langsam stieg man ins Drogengeschäft ein. Sehr fein beschreibt die Autorin geschichtliche und soziologische Hintergründe zur 'Ndrangheta, was für mich in diesem Fall absolut wichtig ist, um das Konstrukt zu verstehen. Das alles ist von Gioacchino Criaco autobiografisch geschildert in seinen Romanen «Schwarze Seelen» und «Die Söhne der Winde». Das meiste, was Sanne de Boer beschreibt, ist mir bekannt. Aber eine gute Zusammenfassung ist immer prima zu lesen. Was mir ein wenig fehlte, war die Faktenfütterung. Hier wird viel interviewt und behauptet. Doch es gibt jede Menge Untersuchungen, die man hier hätte erwähnen können. Behauptungen sollten im Journalismus auch bewiesen werden. Und zu der ein oder anderen Aussage, habe ich andere Faktenkenntnisse. Es sind Kleinigkeiten. Insgesamt ist das Buch stimmig. Die Geschichte der 'Ndrangheta und ihr krakenhaftes Geflecht durch ganz Europa, durch die ganze Welt. Ein Thema, das uns alle angeht! Empfehlung! Bitte lesen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was schief läuft.
Sanne de Boer, geboren 1979, ist Journalistin für zahlreiche niederländische Zeitungen, Rundfunk und TV. Seit 2006 wohnt sie in Kalabrien in Süditalien und berichtet als erste ausländische Journalistin von dort über die `Ndrangheta, die mächtigste Mafia Europas.
Rezension zu "Ndrangheta" von Sanne de Boer
Die niederländische Journalistin Sanne de Boer hat ein beeindruckendes Sachbuch über die Ndrangheta, die wohl mächtigste Mafia der Welt geschrieben. Während die diversen Mafia-Clans durch lautes Getöse - sprich Bandenkriege - auf sich aufmerksam mach(t)en, ist es der Ndrangheta gelungen unter dem Radar der Polizei ihr weit verzweigtes Netzwerk aufzubauen.
Meine Meinung:
Das Buch fasziniert und erschreckt zugleich. Der Autorin ist es sehr gut gelungen, das verzweigte Netzwerk den Leser darzustellen, das von Kalabrien aus agiert.
Die einzelnen Kapitel sind gut strukturiert. Sanne de Boers Schreibtsil ist sachlich und anschaulich. Die Leser erfahren viel über die juristische Praxis in Italien sowie über Aussteiger, Opfer sowie juristische Mängel bei der Verfolgung der Mafia in Deutschland.
Interessant sind die Informationen aus den Niederlanden. Mit diesen Informationen sind die Berichte über eine Gefährdung der niederländischen Thronfolgerin, die vor Kurzem durch die Medien gegeistert sind, verständlicher.
Das Cover passt vorzüglich zu diesem Sachbuch: wie ein Krake breitet die Organisation ihre Tentakel aus. Kaum hackt man einen Arm ab, wächst schon wieder ein neuer nach.
Fazit:
Ein aufschlussreiches Sachbuch, das fesselnd über die vermutlich größte Verbrecherorganisation Europas berichtet. Gerne gebe ich diesem Buch 5 Sterne.