Cover des Buches Das große Herz (ISBN: 9783446254534)
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Rezension zu Das große Herz von Sara Stridsberg

Verloren, doch geliebt

von serendipity3012 vor 7 Jahren

Rezension

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serendipity3012vor 7 Jahren
Verloren, doch geliebt

„Das große Herz“ gehört Jim. Und es ist nicht nur sein Herz, das ihm zu groß geworden ist:

„Meine Flügel sind zu groß geworden, ich kann nicht mehr fliegen.“ S. 54

So Jim zu seiner Tochter Jackie, als er gerade in Beckomberga angekommen ist, wo er viele Jahre verbringen wird. Eine Klinik für psychisch Kranke, ein Ort, der ihm Sicherheit geben wird, der aber kein richtiges Zuhause sein kann – vor allem nicht für Jackie, die dort viel Zeit verbringt. Sie verspürt ein starkes Bedürfnis danach, in der Nähe ihres Vaters zu sein. Eines Vaters, der sich nie wie einer verhalten hat oder verhalten wird. Jim lebt in seiner eigenen Welt, „ohne Überlegungen, ohne Strategie, ohne einen Gedanken an die Zukunft.“ S. 114

Sara Stridsberg erzählt in ihrem Roman „Das große Herz“ die Geschichte von Jackie und ihrem Vater Jim und ihrer ungewöhnlichen Beziehung. Es ist aber nicht nur die Krankheit des Vaters, die Jackie zu einer ungewöhnliche Kindheit „verhilft“, auch ihre Mutter verhält sich ihr gegenüber nicht, wie man es erwarten würde: Lone reist um die Welt, lässt Jackie allein zurück, scheint sich generell nicht viel um sie zu kümmern. Ob dieses Verhalten nun ein Ausdruck von Desinteresse oder von Vertrauen in die heranwachsende Tochter ist? Lone scheint seltsam abwesend.

So verbringt Jackie ihre Tage in der Klinik, lernt andere Patienten kennen, macht die Bekanntschaft von Paul, der, wie mit der Zeit klarer wird, kein guter Umgang für sie ist. Die Geschichte springt aber auch immer wieder in die Gegenwart, in der Jackie selbst einen kleinen Sohn hat, den sie bewusst allein großzieht, den sie mit ihrer Liebe überschüttet. Es wird deutlich, ihre Kindheit, der psychisch kranke Vater und sein Verhalten ihr gegenüber, all dies hat Jackie geprägt und tiefe Spuren hinterlassen. Als Erwachsene ist sie immer ein wenig außen vor.

Stridsberg macht stets den Unterschied deutlich zwischen dem drinnen, dem Leben in der Klinik, und dem draußen, der Welt der so genannten normalen Menschen. Und vielleicht zieht es Jackies Mutter Lone deshalb so oft hinaus in die Welt, weil sie sich von der geschlossenen Welt, in der ihr Exmann lebt, so weit wie möglich entfernen möchte.

„Das große Herz“ ist auf der einen Seite ein sehr dialoglastiger Roman, was die Geschichte sehr lebendig wirken lässt. Auf der anderen Seite findet die Autorin viele starke Bilder und Metaphern, um die Innenwelt sowohl in der Klinik, als auch die der Kranken darzustellen. Nie führt sie sie vor, immer nimmt sie sie und ihre Gefühle, ihre Sicht auf die Welt, ernst.

„Wir blickten hinaus auf die Bäume und den Nebel und die Vögel, und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, meine Organe würden in der ganzen Stadt verstreut liegen. Lunge, Niere, Galle und Herz; dass sie eine leichte Beute für die Ratten und Vögel dieser Stadt wären.“ S. 246

Sara Stridsberg ist mit „Das große Herz“ ein sehr stimmungsvoller Roman gelungen, der seine Kraft auch gerade aus seinen Auslassungen schöpft, denn die Geschichte konzentriert sich auf die starken Dialoge und auf die Gedanken seiner Protagonistin, die allerdings oft auch unvollständig erscheinen oder von denen uns nur Ausschnitte gezeigt werden. Stridsbergs Sprache ist dabei stets sehr klar. Der beschränkte Raum, in dem Jackie sich bewegt, sowohl tatsächlich als auch gedanklich, trägt zu der Märchenhaftigkeit bei, die die Geschichte ausstrahlt. Auch Jim scheint der Welt ja entrückt zu sein, niemals benimmt er sich seiner Tochter gegenüber väterlich, vielmehr ist er oft wie ein kleiner Junge. Nur sehr selten überrascht er Jackie mit scheinbar einfachen Wahrheiten:

„’Warte nicht’, sagt Jim, als hätte er meine Gedanken gelesen. ‚Das Leben fängt nie an, es hört einfach nur auf. Plötzlich. Einfach so.“’ S. 295

„Das große Herz“ ist ein zauberhafter Roman über Menschen, die verloren scheinen, die die Gesellschaft ausgeschlossen hat, die sie vielleicht nicht sehen will, die aber dennoch geliebt wurden und auf die stets geachtet wurde. Man kann die Geschichte als Aufforderung lesen, denen, die anders sind, auf Augenhöhe zu begegnen, sie für voll zu nehmen. Stridsberg erklärt nicht, stellt die Dinge einfach hin und zeigt, dass anders sein in Ordnung ist. Als Leser wird man hineingezogen vor allem in eine Stimmung, die oft sehr melancholisch ist. Und obwohl vieles nicht zu ändern ist, obwohl man den Protagonisten manches Mal eine Änderung, ein anderes Leben wünscht, ist es am Ende doch okay, wie es ist. „Das große Herz“ ist eine besondere, sehr atmosphärische und kraftvolle Geschichte, die mich völlig in ihren Bann gezogen hat.
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