Rezension zu "Bei den Wölfen" von Sarah Hall
Widersprüchlichste Empfindungen - zwischen intellektuellem Kitzel und emotionalem Unbehagen - beutelten mich bei diesem Roman.
Ich bin immer wieder baff, welche Werke, Romanfiguren, Autoren - es schaffen von der Kritik "bejubelt" und mit Preisen und gar Stipendien überhäuft zu werden?
Auch hier - wie so gern im angeblich gehobenen literarischen Roman (in bester Tradition seit Goethes Faust, Frischs Homo Faber und all den anderen Konsorten des Gruselkabinetts) - findet man eine Hauptfigur vor, die man nur als gestört bezeichnen kann.
Sie balanciert auf haarfeiner Schwelle zwischen Alexythymie und Soziopathie - ist also so gefühlstaub gegenüber ihrer Mitwelt wie ein Alien - und manövriert auf eine Art in ihrem sozialen Umfeld herum, dass es einen nur so graust.
Ob es da jetzt von Vorteil ist, dass die Protagonistin endlich mal eine Frau ist ...?
Im Klappentext wird man nicht vor der Verrückten gewarnt! Oder aber Klappentexter, Verlag und Co. nehmen diese kleine nebensächliche Besonderheit gar nicht erst wahr? Wie geht denn das, ein Jahrhundert nach Freud? Doch nein, da ist ausschließlich von der dollen Kombi gänzlich anderer Versatzstücke die Rede!
- Neben der besonderen Themenwahl (na gut) wird vorrangig
- die feministische Thematik (Häh?)
- und die Landschaftsbeschreibung benannt.
Das letztere ist korrekt; die Natur wird von der Autorin sehr eloquent, in einem überaschend neuen Stil beschrieben. Und das Thema - Wiederansiedelungsprojekt Wolf - macht sowieso gespannt auf mehr. Und so könnten die Naturbeschreibungen begeistern ... wenn einen nicht alle paar Sätze die Beklemmung überkommen würde. Denn eigentlich ging es bis gerade eben, noch im letzten Halbsat, um etwas vollkommen Anderes und zwar etwas Wesentliches?!?! Doch willkürlich findet sich der Leser in einem Moor oder beim Betrachten des austernfarbenen Himmel wieder, also im gefühlsneutralen Irgendwo - total allein gelassen! - anstatt bei den Menschen, den Gefühlen, der nächsten folgerichtigen Handlung.
Beklemmend ist es auch der Protagonistin bei ihrer Schwangerschaft zuzulesen! Diese dämmert ihr nur sehr Allmählich, in einer Art des Vorbewussten, das an eine Amöbe gemahnt!
Letztlich rätsele ich bis heute: war das nun alles hohes schreiberisches Können, also bewusst gewählte literarische Methode oder schrieb hier womöglich eine Autistin?
"Feminstisch" als Deskriptor fand ich dann endgültig irreführend. Genauso wie eine angebliche `Selbständigkeit' der Heldin; die sich allenfalls aus ihrer Störung heraus generiert, nicht aus etwaiger Emanzipiertheit. Denn von einem aufgeklärten Menschen, würde man sich Klarheit und Begreifen erwarten. Doch gerade jegliches Begreifen scheint sich der Figur immer wieder zu entziehen.
Immerhin, die Heldin - hochstudiert und eigentlich als Natur- und Verhaltensforschende erfahren (interessante Personalwahl der Autorin!) - scheint eine vage Ahnung zu beschleichen (quälendst langsam und in solch homöopathischen Dosen, dass ich ganz kribbelig wurde), dass sich da bei ihr von Generation zu Generation i-r-g-e-n-d-e-t-w-a-s nicht ganz fehlerfrei fortschreibt?
Ein emanzipativer Unterton findet sich allenfalls - dies aber gekonnt - in der historischen und politischen Beleuchtung des Themas, mit klugen kritischen Auseinandersetzungen zum englischen Herrschafts- und Gesellschaftssystem.
Hoch faszinierend sind auch die Biotope beschrieben, in denen die Protagonistin agiert: die Wildnis Amerikas im Vergleich zur überkultivierten Landschaft der alten Welt Europas (Nordengland, Grenzgebiet zu Schottland).
Sowohl diese, als auch die denkbaren politisch-sozialen Folgen, (bezogen auf die Wolfs-Wiederansiedelungsprogramme) sind so umsichtig und glaubwürdig erfunden , dass man die Wölfe bereits durch England streifen sieht (und sehen möchte). Da kommen einem die Demonstranten so ungelegen, dass man sie nicht leiden mag. Sie fangen einem aber an leid zu tun, so soziopathisch wie die Heldin mit ihnen umspringt, (bzw eben gar NICHT umgeht).
FAZIT: zumindest intellektuell muss der Leser bei der Lektüre nicht darben. Auch wird bei diesem Roman nicht in Nichtssagendem herum gedümpelt. Hier hat's ein hehres Anliegen! Da beweihräuchert sich niemand inmitten von Konsum und Bequemlichkeit in seiner moderner Langeweile und Ziellosigkeit, wie in so gähnend vielen Schreiborgien auf dem Büchermarkt.
Doch das Unbehagen ... an unserer schwerst unterkühlten Soziopathin bleibt ... die auch nach monatelangem Verdrängen ihrem (mal eben so zack-zack) in Amerika zurückgelassenen besten Freund das als Ausrutscher gezeugte Kind verschweigt ... und sie verdrängt ... und sie verdrängt .... und sie denkt wieder nicht nach .. nie ... aber auch über gar nix ... und wieder nicht ... und sie verdrängt schon wieder ... und die Füße werden einem immer kälter, in diesen substanzlosen Innenwelten einer Hauptfigur, die einen nie richtig mitnimmt ...
Meine Empfehlung: sich gut in eine warme Decke einwickeln, einen heißen Kakao dazu machen, dann kann man es ohne seelische Kollateralschäden überstehen!