Der Anfang: «Halide lief über die Kirschbaumplantage. Sie drehte sich im Kreis und reckte ihr Gesicht gen Himmel. Sie war fasziniert von der Kraft der Sonne. Obwohl es noch einige Minuten dauerte, bis sie strahlen würde, war es schon fast hell. Sie war noch nicht aufgegangen, aber ihre Präsenz war unverkennbar.»
Jeden dritten Tag ermordet in Deutschland ein Mann seine (Ex)-Partnerin / (Ex)-Ehefrau: Femizid – das ist das Thema. Laut Klappentext geht es hier um eine junge Staatsanwältin, die im Fall eines Femizids die Anklage vertritt. Gleich nach dem Prolog lernen wir sie kennen. Es beginnt mit einer Messerattacke auf eine junge Frau, Aliye Yıldız, die im Krankenhaus liegt, den Angriff vielleicht nicht überleben wird, der hinterrücks erfolgte. Täter unbekannt. Dann geht es weiter in eine Familiengeschichte über drei Generationen. Am Ende hat wieder die Staatsanwältin das Wort. Halide ist eine türkische Frau, die Großmutter von Aliye, die mit dem Ehemann nach Deutschland auswandert. Ihre drei Kinder wachsen bereits in einer relativ gemäßigten Erziehung auf. Die Töchter Sabiha und Sadiye können nicht unterschiedlicher sein. Sabiha brav und Sadiye freiheitsliebend und trotzig. Bruder Kemals bester Freund ist ein Deutscher, der ein gerngesehner Gast im Haus ist, alles in allem eine recht gut integrierte Familie. Sadiye allerdings treibt es auf die Spitze, rebelliert und zieht von zu Hause aus, wohnt fortan in besetzten Häusern. Es ist ihre Geschichte, ihre Familiengeschichte. Von ihr Aliye erfahren wir nicht viel. Jemand hat versucht sie zu töten.
«Sie war besessen von der Suche nach Wahrheit und sie lebte für ihren Job. In jeder Akte suchte sie nach dem größeren Rahmen. Auch wenn die Beweislage eindeutig war, stellte sie die Ermittlungen nicht ein, bis sie das Motiv der Täter:innen nachvollzogen hatte. Kein Mensch wurde einfach so straffällig. Es gab immer einen Auslöser, einen Ursprung – mal gesellschaftlicher, meist biografischer Art. Und erst wenn sie das Epizentrum eines jeden Falles gefunden hatte, konnte sie ihr Plädoyer schreiben. Ihre beste Freundin Esther, eine renommierte Psychotherapeutin aus Charlottenburg, attestierte ihr regelmäßig einen Hang zum Zwanghaften hinsichtlich der Akribie, mit der Frida täglich ihren Dienst antrat.»
Nach der ersten zwei Seite war ich geneigt, den Kriminalroman abzubrechen. Die etwas ungelenke Sprache hatte mich genervt. Zu viele inhaltlich Wiederholungen zum Sonnenaufgang, eine schwache Stilistik, dass alles war mir zu holprig. Aber ich war neugierig. Die Sprache wird besser, auch wenn der Roman insgesamt gesehen nicht als sprachliches Highlight gewertet werden kann. Zu oft wird mir mit nichtssagenden Beschreibungen agiert, anstatt auf den Punkt zu kommen und Bilder zu entwickeln: «... steht vor einem wunderschönen Altbau», da entwickelt sich nichts in meinem Kopf. Am Anfang gibt es ein paar juristische Überlegungen – die Meinung der Staatsanwältin zum Rechtssystem wird vorgestellt. Das klingt an manchen Stellen recht trocken, wie ein Sachbuchauszug. Dagegen die leicht kitschig dargestellte private Vorstellung und der Lebenslauf von Frieda. Schreibstile, die nicht zusammenpassen und es kam mir vor wie ein Felsbrocken, die Figur am Anfang so massiv vorzustellen, in den Focus zu setzen, anstatt sie langsam zu entblättern. Klar, es geht nach 50 Seiten in die Geschichte von Sadiye. Erst auf Seite 159 ermittelt Frida weiter.
«‹Mein Gott!›, fluchte sie. ‹Wie viele Menschenleben gerettet wären, wenn es dieses verflixte männliche Ehr- und Besitzanspruchsdenken nicht geben würde.›»
Inhaltlich geht es um die sogenannten «Ehrenmorde». Noch in den 70-Ern sind in Deutschland Täter freigesprochen worden, man argumentierte, man müsse die Wertvorstellungen berücksichtigen, in denen die Täter wegen ihrer Bindung an eine fremde Kultur verhaftet sind, oder man betrachtete die Morde als Verzweiflungstat. Erst Mitte der Neunziger änderte sich die Einstellung. Man warf den Tätern niedrige Beweggründe vor, das Handeln wurde als verächtlich angesehen, weil sie sich in doppelter Art und Weise über die deutsche Rechtsordnung hinwegsetzen, die Stellung eines Richters und Vollstreckers einnehmen, private Todesurteile sprechen, wobei die Todesstrafe in Deutschland nicht existiert. Unsere Staatsanwältin geht noch weiter – Mord ist Mord – aber es existiert der sogenannte Femizid, Frauen die von (Ex)Partnern aus niedrigen Gründen getötet werden, angefangen mit banaler Eifersucht. Eine patriarchalische – eine geschlechtsbezogene Tötung. Und dies muss deutlich benannt werden, unabhängig der kulturellen Herkunft des Täters. Das Wort Ehrenmord müsse gestrichen werden. Mord hat nichts mit Ehre zu tun.
Man fragt sich als Lesender die ganze Zeit, wann Aliye in dieser Geschichte auftaucht. Mehr oder weniger gar nicht. Der Fall wird zudem nicht aufgeklärt, man bekommt nicht einmal ansatzweise ein Gefühl dafür, warum die junge Frau ermordet werden sollte. Weshalb und von wem wurde Aliye angegriffen? Das hat mich befremdet und ratlos zurückgelassen. Der Roman beginnt mit einem Tötungsdelikt, der beiseitegelegt wird. Hat die Autorin hier ihren Faden verloren? Die Familiengeschichte, die sich hier auftut, gibt keine Rückschlüsse auf die Täterschaft: eine herzliche, gebildete Familie. Der Vater von Aliye ist Arzt. Es entwickelt sich aus der Geschichte aber ein anderer Fall, der lange zurückliegt und konstruiert wirkt, weil er vom Klischee ablenken will, was gut gemeint ist, aber nicht in die Geschichte passt. Der Lesende wird ratlos zurückgelassen. Letztendlich, wenn man alles zusammenzählt, ist dies ein schwacher Justizroman: Ein nicht überzeugendes Konstrukt, Ausdruck und Stilistik schwächeln. Über Femizid zu schreiben ist wichtig und gut gemeint, mehr kann ich diesem Roman nicht abgewinnen.
Sarah Kessler wurde 1993 in Kassel geboren. Aufgewachsen in Ostwestfalen und mit Zwischenstationen in Newcastle und Galway, zog es sie an die Universität Münster, um Politik zu studieren. Dort hat sie auch die Zusatzausbildung „Journalismus und Recht“ absolviert und befindet sich gerade in ihrem Zweitstudium: Jura – mit dem Schwerpunkt Kriminologie.