Den ersten Teil würde ich als den naiv-romantischen bezeichnen wollen, den zweiten als den verdorben-erotischen und den dritten als tiefgründig-reifen Lebensabschnitt. Die Protagonistin macht eine vielfältige und komplexe Entwicklung durch. Nach ihrer vollständigen Entwurzelung und dem Bruch mit ihrer kindlichen Emotionalität, lässt sie sich ohne Orientierung und Halt umfangen von dunklen Gefühlen und einer Welt des äußeren Scheins. In Person der Nancy werden viele Facetten von Liebe erlebbar, vom tiefsten Hingerissensein zu einer Person über den routinierten Wechsel von Sexualpartnern bis zur bewussten und reifen Entscheidung für einen geliebten Menschen.
Dabei sind alle Brüche völlig nachvollziehbar gezeichnet: die erste große Liebe, die alles ausfüllt, alles bisherige unbedeutend erscheinen lässt und eine Perspektive fürs ganze Leben zu geben scheint, das verhärtete Herz und der Wunsch nach Rache, der sich in einem geschäftsmäßigen Abarbeiten von Sexualpartnern ausdrückt, die Hindernisse auf dem Weg, sich wieder auf die Liebe einzulassen.
Die Protagonistin ist eher unauffällig, aber nicht unbegabt. Anfangs erlebt man sie als unselbstständig und wenig selbstbestimmt, dann als leeres Gefäß, als ziellose Person, die sich selbst vergessen hat. Rührend sagt sie gegen Ende des Buches über sich selbst: „Ach, ich habe das Gefühl, als hätte ich mein ganzes Leben lang aufgesagt, was andere geschrieben haben. Und jetzt, wo ich zu dir sprechen will, merke ich, dass ich es fast nicht kann.“
Der Erzählstil der Autorin gefällt mit besonders gut. Sie wählt eine interessante Form der Ich-Erzählung. Die Geschichte macht sie zu ihrer eigenen und erzählt sie rückblickend dem Leser. Dabei wechselt sie zwischen ihrem jetzigen Ich und ihrem damaligen. Auf diese Weise schafft sie eine große Nähe zur Hauptfigur und kann gleichzeitig eine distanzierte und kritische Position einnehmen. So war ich damals... Ich wusste noch nicht viel... Dadurch, dass sie den Leser immer wieder aus der Geschichte heraus und beiseite nimmt, schafft sie gleichzeitig ein persönliches Verhältnis zwischen sich und ihm.
Im Allgemeinen schreibt die Autorin sehr lebendig und schwungvoll. Gerade den Beginn des Buches, als sie den Leser im Geiste mit in die Vergangenheit nimmt und ihm ihre Familie vorstellt, finde ich sehr gelungen. „Und haben sie (…) eine Frau gesehen, die konzentriert in die Dampfwolken blickte, welche aus einem Topf mit kochender Austernsuppe aufstiegen (…). Das war meine Mutter. Und stand neben ihr vielleicht ein schmales, nicht weiter bemerkenswertes Mädchen mit sehr blassem Gesicht (…)? Das war ich.“
Der Erzählstil gefällt mir also insgesamt sehr gut. Lediglich viele Gedankeneinschübe führen stellenweise zu langen Sätzen, die für mich nicht immer auf Anhieb verständlich waren. Weniger gefielen mir auch die vielen ordinären Ausdrücke im Mittelteil des Buches.
Ich habe die Geschichte gelesen, weil ich ein ehrliches Interesse daran hatte zu erfahren, welche Wirkung eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen auf einen (schwulen) Mann haben kann. Und ja... Ich war begeistert.
Ich kann für mich sagen, dass es gleichgültig ist, ob eine Liebesgeschichte von Mann und Frau, zwei Männern oder zwei Frauen handelt. Es ist immer das Entbrennen für den anderen, es ist immer der Wunsch zusammen zu bleiben in Liebe, es ist immer die richtige Entscheidung. Ich bin gleichermaßen bewegt.
Dabei bot diese Liebesgeschichte darüber hinaus für mich interessante Einblicke zum Thema Geschlechtsidentität. Beispielsweise fand ich es sehr interessant zu lesen, dass eine Kurzhaarfrisur oder das Tragen von Hosen die Zufriedenheit der Protagonisten mit sich selbst und auch ihre Libido steigerte, dass sie sich so gekleidet und frisiert, richtig in ihrer Rolle und ihrer Liebe fühlte.
Kurz: Ich mag diesen Roman sehr. Der romantische Teil hat mich sofort eingefangen, der verruchte Mittelteil fast rausgeworfen, der Schlussteil hat alles mehr als aufgewogen. Eine wirklich abwechslungsreiche Liebesgeschichte, der ich 5 von 5 Sternen gebe. Ich werde bestimmt noch mehr von der Autorin lesen.