Cover des Buches Fallensteller (ISBN: 9783630874715)
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Rezension zu Fallensteller von Saša Stanišić

Wo ist der rote Faden?

von Julino vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Witzige Einzelgeschichten, großartige Sprachspiele, Gesamtkomposition aber leider nicht erkennbar.

Rezension

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Julinovor 8 Jahren

Mit Fallensteller legt Saša Stanišić seinen ersten Erzählungsband vor. Nur zwei Jahre nach dem hochdekorierten Vor dem Fest (Luchterhand, 2014) und ganze zehn Jahre nach seinem Debüt Wie der Soldat das Grammofon repariert (Luchterhand, 2006) ist dies sein drittes Buch. Wird es aus dem Schatten des überlebensgroßen Vorgängers treten können?

Der Band versammelt zwölf Erzählungen, von denen einige für sich stehen und einige direkt zusammenhängen. Der Beginn ist eindrucksvoll: »Die große Illusion am Säge-, Holz- und Hobelwerk Klingenreiter Import Export«, eine der selbständigen Erzählungen, schildert mit feinem Humor und großer Sensibilität die Zaubervorführung Ferdinand Klingenreiters. Er ist lebenslanger Angestellter und Untergebener seines Bruders beim titelgebenden Familienbetrieb, und das weithin belächelte, nicht eben schwarze, aber doch zumindest dunkelgraue Schaf der Familie. In Rückblenden erfahren die Lesenden von seinem Leben im Schatten seines Bruders, seiner Zuneigung zu seinem pubertierenden Großneffen Felix und seiner Verehrung für die Zauberkünstlerin Halima, der er auf der Bühne nacheifert. Geschickt verbindet Stanišić Vergangenheit und Gegenwart zu einer stimmigen Charakterstudie voller Melancholie:

Klingenreiter lächelte und hasste es, dass er lächelte. Dass er immer aus den Ecken lächeln musste, in die er gedrängt wurde. An der gefliesten Wand hing ein Wandteppich, der Tresen war aus Glas und Metall. Klingenreiter suchte Holz und fand keines. Der Junge wirkte entspannt, wie es Sieger sind. Als wäre er froh, dass ihnen die einfachste Unterhaltung nicht gelang.

Die ebenso stimmig wie gefühlvoll, melancholisch wie heiter gezeichneten Personen, denen die Leser_innen in Fallensteller begegnen, sind die große Stärke des Autors. Großartig sind die drei Geschichten über Georg Horvath, dem mit seinem Leben unzufriedenen Contract Manager eines großen Brauereikonzerns. Er reist zu Vertragsverhandlungen nach Brasilien und entdeckt in der Ferne seine Lust am Abenteuer, am Kontrollverlust wieder. Toll auch die Schilderung der kosovarischen Hirten in »Die Fabrik«, deren Sprache deutlich an den lyrischen Ton von Vor dem Fest erinnert. Fast meint man die Eigenbrötler nicht nur vor sich zu sehen, sondern sie geradezu riechen zu können:

Der Hirten Lebenslinien voller Erde und Schmutz. […]
Der Hirten Bärte aus Tannennadeln. […]
Der Hirten Augenbrauen aus Eiskristallen. […]
Der Hirten Grinsen aus Karies.

Drei Geschichten handeln von Mo und seiner obsessiven Suche nach dem Glück. Zumeist sucht er es bei Frauen unterschiedlichster Couleur – ob die Ich-Erzählerin auch zu diesem Kreis gehört, bleibt in lustvollem Dunkel verborgen.

Gerade bei diesen Erzählungen zeigt sich aber auch immer wieder etwas unfertiges, sie erwecken oft den Eindruck, als hätten sie noch Zeit gebraucht. Auffällig oft holpern die Sätze dahin, gerade zu Beginn der Erzählungen wirkt vieles unausgereift.

Verschwörungstheoretisch sind unsere Pizzen mit Albanerspucke gewürzt, munden dennoch auserlesen, was zentral an den Herzen liegt, die man den Artischocken entrissen hat, so Mo, der sofort nach der Diagnose schwört, nie wieder während der Nahrungsaufnahme Unterhaltungen über Nahrung zu forcieren.

Der zumeist so charmante Stanišić-Sound, der die Dinge immer nur beim fast richtigen Namen nennt und ihnen damit oft näher rückt als die verfestigten, althergebrachten Redeweisen es noch vermögen, überschlägt sich hier und da und rutscht ins Kompliziert-Verklausolierte ab. Von jeglicher Kritik auszunehmen ist aber die titelgebende Erzählung, »Fallensteller«, die in einer kürzeren Fassung schon im ZEIT-Magazin veröffentlicht wurde. Sie wendet sich dem literarischen Uckermark-Tourismus zu, den Saša Stanišić mit dem großen Vorgänger, Vor dem Fest, ausgelöst hat. Im unnachahmlichen Sound des Romans schildert die Erzählung das Auftauchen eines liebenswerten Waldschrats, eben jenes Fallenstellers, in Fürstenwalde. Geschickt verflechtet Stanišić die Geschichte des Fallenstellers mit einer kleinen Revue der Nachwirkungen des Erfolgsromans auf die uckermärkischen Dörfer und den Autor. Fast alle der vielen so liebgewonnenen Charaktere treten noch einmal auf, vor allem steht der zum Literaten avancierte Lada im Mittelpunkt.

Wir sind überrascht und froh: Das, was Lada die ganze Zeit aufgeschrieben hat, hat einen Preis bekommen. Einen Literaturpreis. Wir wussten nicht mal, dass man für Literatur noch andere Preise gewinnen kann als den Nobelpreis und den einen, den der Jugo gewonnen hat.

»Der Jugo«, das ist Saša Stanišić, der für seine Recherchen lange Zeit in der Uckermark verbrachte. Immer wieder wird in den Reden und Gedanken der Figuren ein heiteres Bild seiner Zeit auf den Dörfern gezeichnet. Auch Bezüge auf neuere Ereignisse sind zahlreich vorhanden. Vor allem ist dies die Flüchtlingskrise, der ein komplettes Teilkapitel gewidmet ist. In einer klassischen Allegorie über die Rückkehr des Wolfs in die brandenburgischen Wälder zeigt Stanišić pointiert den Irrsinn von Rechtspopulismus bis -extremismus und dessen Entstehung im Kleinen.

Das ist ja übrigens unser aller Problem, wenn wir uns an dieser Stelle einen kleinen Einwurf erlauben dürfen: dass wir unsere Schlüsse oft aus einer Überzeugung ziehen, statt aus Tatsachen. Was für eine gute Welt wäre unsere Welt, um jetzt mal etwas Idealistisches zu sagen, wenn wir auch bei sonstigen Zweifelsfällen immer erst einen Rissbegutachter bestellen würden, statt gleich Flinte und los, Wolfsjagd? Oder noch schlimmer, Wolfseisen? Oder gleich mehr als nur Wolf.

Knapp einhundert Seiten umfasst die Erzählung und nimmt damit etwa ein Drittel des Bands ein. In der Erinnerung wird es bei den meisten Leser_innen wohl gerade sie sein, die heraussticht. Vollkommen zu Recht, wie ich finde, denn sie ist ein toller Nachklang zum Vorgänger. Sie ist ein Muss für ich alle begeisterten Leser_innen des Romans.

Doch liegt hier auch die Crux an dem Band als ganzem: Er wirkt unrund, nicht durchkomponiert, vielleicht sogar opportunistisch. Es scheint, als ob die Titelgeschichte raus musste, um nicht zu lange nach dem Roman zu erscheinen. Allein war sie aber zu kurz für ein eigenes Buch, weshalb mit anderen, schon fertigen Erzählungen aufgefüllt wurde, und fertig war der Erzählungsband! Das steht dem durchkomponierten Vor dem Fest komplett entgegen und enttäuscht. Dies soll nicht die Qualität der meisten Erzählungen antasten; aber von einem Erzählungsband erwarte ich mehr.

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