Sean McMeekin

 3,6 Sterne bei 7 Bewertungen
Autor*in von July 1914, The Russian Revolution: A New History und weiteren Büchern.

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Cover des Buches Juli 1914 (ISBN: 9783944305486)
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Rezension zu "Juli 1914" von Sean McMeekin

Andreas_Oberender
Juli 1914. Der letzte Monat vor dem großen Krieg

Nicht viele Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg bieten so viel Zünd- und Diskussionsstoff wie Sean McMeekins Buch über die Juli-Krise. Der amerikanische Historiker ist noch einmal zu den Quellen - sowohl veröffentlichten als auch unveröffentlichten - zurückgegangen, um den Verlauf der Juli-Krise Tag für Tag detailliert und minutiös zu rekonstruieren. Auf den ersten Blick mag eine streng chronologisch angelegte Darstellung simpel und altmodisch wirken. McMeekins Buch, ein klassisches Beispiel für die zu Unrecht geschmähte "Ereignisgeschichte", ist aber alles andere als simpel. Der Autor entwirft ein komplexes Bild, bezieht er doch sechs Staaten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Serbien, Russland, Frankreich und Großbritannien) in seine Darstellung ein, die einem akteursbezogenen Ansatz verpflichtet ist, während strukturelle Faktoren weitgehend unberücksichtigt bleiben. Der für die Juli-Krise relevante Personenkreis beläuft sich bei McMeekin auf über 80 Haupt- und Nebenakteure (Monarchen, Regierungschefs, Außenminister, Diplomaten und Militärs).

Die minutiöse Wiedergabe des Ereignisablaufs mag pedantisch wirken, doch ist es für McMeekins Argumentation von entscheidender Bedeutung, wer wann welches Telegramm gelesen hat und wie der aktuelle Informationsstand (inkl. Falschinformationen und Informationslücken) das Denken, die Intentionen und die Entscheidungen der beteiligten Akteure beeinflusste. Es ist eine große und respektgebietende Leistung, ein solch dichtes und kompliziertes Geflecht von Kommunikations- und Handlungssträngen in einer auch für Laien gut lesbaren Form darzustellen. Diese anspruchsvolle Aufgabe hat McMeekin bravourös gemeistert. Zu keinem Zeitpunkt hat man als Leser das Gefühl, den Überblick über die Akteure, ihre Motive und ihr Handeln zu verlieren. Das sollten auch jene anerkennen, die nach der Lektüre McMeekins Deutung der Juli-Krise nicht zustimmen.

Um bei der klassischen Unterscheidung zu bleiben: McMeekin untersucht den Anlass des Ersten Weltkrieges, nicht seine Vorgeschichte und seine weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Ursachen. Grundkenntnisse über die Geschichte des europäischen Mächtesystems zwischen 1890 und 1914 können bei der Lektüre nur hilfreich sein. McMeekin konzentriert sich ganz auf die Zeit nach dem Attentat von Sarajewo. Er geht zunächst darauf ein, wie die Führungen der fünf Großmächte auf das Attentat reagierten. Danach schildert er die einzelnen Etappen der Juli-Krise bis hin zu den wechselseitigen Kriegserklärungen Ende Juli/Anfang August. Das Buch endet mit einem Epilog, in dem McMeekin die jeweilige Verantwortung der fünf Großmächte für die schrittweise Eskalation der Krise und den Kriegsausbruch gewichtet und abwägt. Er unterscheidet dabei zwischen Fehlern bzw. fehlerhaften Entscheidungen (sins of commission) und sogenannten Unterlassungssünden (sins of omission). Diese Unterscheidung ist aus McMeekins Sicht keine Haarspalterei, sondern Voraussetzung dafür, den Anteil der einzelnen Mächte am Kriegsausbruch realistisch einschätzen zu können.

Zwei Grundannahmen sind von zentraler Bedeutung für McMeekins Interpretation der Juli-Krise: Das Deutsche Reich habe keinen Präventivkrieg gegen Russland und Frankreich geplant. Zumindest hätten Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg Forderungen des Militärs nach einem Präventivkrieg niemals ihre Zustimmung erteilt. Ein starkes Interesse an einem großen europäischen Krieg hätten hingegen Russland und das nach Revanche trachtende Frankreich gehabt. Sie seien im Juli 1914 kriegswilliger gewesen als Deutschland und Österreich-Ungarn. Das Zarenreich habe den österreichisch-serbischen Konflikt bewusst verschärft, um ihn zu einem europäischen Konflikt auszuweiten. Mit Rückendeckung Frankreichs und Großbritanniens habe Russland seinen Plan umsetzen wollen, endlich das Osmanische Reich zu zerschlagen und die Meerengen unter russische Kontrolle zu bringen. Ohne einen allgemeinen europäischen Konflikt wäre es dem Zarenreich nicht möglich gewesen, gegen das Osmanische Reich vorzugehen. McMeekin greift hier einen Gedanken auf, den er in einem früheren Buch über Russlands Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges entwickelt hat.

Damit will McMeekin nicht sagen, dass Deutschland und Österreich-Ungarn keine Schuld am Ausbruch des Weltkrieges trifft. Die beiden Verbündeten waren sich einig, dass ein rein diplomatischer Erfolg gegenüber Serbien unzureichend sei. Von den Deutschen energisch ermuntert, wollte Österreich-Ungarn einen lokal begrenzten Strafkrieg gegen Serbien führen, aber keinesfalls einen großen europäischen Krieg vom Zaun brechen. Berlin und Wien gaben sich der Illusion hin, Russland werde untätig bleiben. Ohne den berühmten "Blankoscheck" aus Berlin - die Zusage voller Unterstützung, und zwar auch im Falle russischen Eingreifens - hätte die Kriegspartei in Wien niemals die Oberhand gewinnen können. Der folgenschwere Fehler der deutschen Reichsleitung bestand darin, den "Blankoscheck" zu erteilen und danach wochenlang keinen Einfluss auf Wiens weiteres Vorgehen zu nehmen. Der österreichische Außenminister Berchtold beging immer wieder katastrophale Fehler, durch die sich die Lage verschlimmerte (z.B. Verzicht auf die Zusammenstellung eines offiziellen Dossiers über die Verwicklung der serbischen Regierung in das Attentat von Sarajewo; verfrühte Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli). McMeekin ist der Auffassung, dass Wien besser beraten gewesen wäre, bald nach dem Attentat gegen Serbien loszuschlagen und die Entente vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das war auch Berlins bevorzugte Option. Sie wurde aber nicht umgesetzt, weil die Wiener Regierung ihr Vorgehen durch ein Ultimatum diplomatisch absichern wollte.

Als das Ultimatum am 23. Juli in Belgrad übergeben wurde, war es für einen Überraschungsangriff auf Serbien längst zu spät. Russland hatte sich unterdessen in die Krise eingeschaltet. Die von Berlin und Wien beabsichtigte Lokalisierung des Konflikts war nicht mehr möglich. Serbien nicht beizustehen hätte Russlands Einfluss auf dem Balkan gefährdet. Dreh- und Angelpunkt von McMeekins Argumentation ist die These, der russische Außenminister Sasonow habe sich bereits am 24. Juli für den Krieg entschieden, also noch vor Ausarbeitung und Übergabe der serbischen Antwortnote. Sasonow habe Belgrad darin bestärkt, die österreichischen Bedingungen nur teilweise anzunehmen. Außerdem habe er Serbien russische Unterstützung für den Kriegsfall zugesagt. Parallel dazu hätten sich die Regierungen Russlands und Frankreichs während des Poincaré-Besuches in Petersburg zugesichert, ihren jeweiligen Bündnispflichten nachzukommen, sollte es zum Krieg kommen. Durch die französische Rückendeckung ermutigt, habe Sasonow mit der sogenannten "Kriegsvorbereitungsphase" (period preparatory to war), die in der Nacht vom 25. zum 26. Juli begann, eine Art geheimer Mobilmachung eingeleitet. McMeekin sieht darin die entscheidende Weichenstellung in Richtung Krieg. Er verweist auf eine interne Definition des russischen Militärs von 1913, wonach die Kriegsvorbereitungsphase dem Beginn der Kampfhandlungen unmittelbar vorausgehen sollte. Sie komme daher einer inoffiziellen Mobilmachung gleich.

Geheimhaltung war deshalb geboten, so McMeekin, weil Russland einen Vorsprung vor den Mittelmächten gewinnen und überdies nicht als Aggressor dastehen wollte. Um Großbritannien auf ihre Seite zu ziehen, waren Frankreich und Russland bestrebt, den Schwarzen Peter den Mittelmächten zuzuschieben. Das fiel ihnen umso leichter, als Berchtold am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte - gegen den Rat der österreichisch-ungarischen Militärführung und ohne Wissen Berlins. Ende Juli hatte sich die Krise bereits dramatisch zugespitzt. Zu den bereits begangenen Fehlern kamen neue Fehler hinzu: Der britische Außenminister Grey, der sich lange nur oberflächlich mit dem Geschehen auf dem Kontinent befasst hatte, ignorierte alle Hinweise auf die russischen Kriegsvorbereitungen. Er drängte Berlin, mäßigend auf Wien einzuwirken, unterließ es aber, Paris aufzufordern, es solle seinerseits mäßigend auf Petersburg einwirken. Das war gleichbedeutend mit einer vorweggenommenen Parteinahme für Frankreich und Russland. Die deutsche Reichsleitung wiederum spekulierte zu lange auf Großbritanniens Neutralität und nahm Greys Vorschläge nicht ernst, die am österreichisch-serbisch-russischen Konflikt unbeteiligten Mächte sollten sich als Vermittler einschalten. Daher sah auch Wien keinen Grund, von einem Militärschlag gegen Serbien abzusehen.

Binnen weniger Tage war der große Krieg da, den - so betont McMeekin - Deutschland und Österreich-Ungarn nie gewollt hatten. Nacheinander machten die Großmächte mobil. Es folgten die ersten Kriegserklärungen, und die Londoner Regierung nahm den Schutz der Neutralität Belgiens zum Vorwand, um sich auf die Seite Frankreichs und Russlands zu stellen. Obwohl das Deutsche Reich erst nach Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich mobil machte, wurde es als Aggressor wahrgenommen, weil es Frankreich und Russland zuerst den Krieg erklärte, anstatt die Kriegserklärungen aus Paris und Petersburg abzuwarten. McMeekin ist der Meinung, dass eine Mobilmachung schwerer wiegt als eine Kriegserklärung. Er lehnt es daher ab, Deutschland die Haupt- oder gar Alleinschuld am Ausbruch des Krieges zuzuschieben. Alle in der Krise maßgeblichen Monarchen und Politiker hatten in unterschiedlichem Maße versagt. Von einigen Akteuren gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, dass sie von der hochexplosiven Situation, die mit Übergabe des österreichischen Ultimatums an Serbien entstand, überfordert waren. Die Krise eskalierte nicht zuletzt deshalb, weil etliche Politiker und hochrangige Diplomaten den Herausforderungen der Situation nicht gewachsen waren. Dazu zählen Berchtold und der deutsche Außenstaatssekretär Jagow, aber auch Bethmann Hollweg und Grey, der bei McMeekin in einem noch ungünstigeren Licht erscheint als bei Christopher Clark.

McMeekin ist ein Autor, dem es nicht an Selbstsicherheit und Mut zu provokanten Thesen fehlt. Er hat mit seiner multiperspektivischen und quellennahen Studie über die Juli-Krise ein spannendes Buch vorgelegt, das unbedingt lesenswert und diskussionswürdig ist. Zu Widerspruch werden sich all jene herausgefordert fühlen, die bezweifeln, dass die Kriegsvorbereitungsphase in Russland mit einer geheimen Mobilmachung gleichzusetzen ist. Einspruch werden sicher auch jene erheben, die der Ansicht sind, das Deutsche Reich habe mit einer "Strategie des kalkulierten Risikos und der begrenzten Offensive" aus der diplomatischen Einkreisung auszubrechen versucht, die Entente sprengen wollen und dabei einen großen Krieg billigend in Kauf genommen. McMeekin setzt sich nicht ernsthaft mit der gut dokumentierten Tatsache auseinander, dass sich die deutsche Militärführung den Krieg gegen Frankreich und Russland lieber früher als später wünschte, vor einer Veränderung des militärischen Kräftegleichgewichts zum Nachteil Deutschlands. Im Sommer 1914 schien die Gelegenheit für den Befreiungsschlag gekommen. Kontroverse Debatten um McMeekins Buch sind deshalb abzusehen.

Die Rezension ist wieder mal recht lang geworden, aber ich hoffe doch, dass sie allen Interessierten einen brauchbaren Überblick über McMeekins Thesen und Argumentationsweise vermittelt.

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im März 2014 bei Amazon gepostet) 

Cover des Buches Mcmeekin, S: Russian Origins of the First World War (ISBN: 9780674072336)
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Rezension zu "Mcmeekin, S: Russian Origins of the First World War" von Sean McMeekin

Andreas_Oberender
Trägt Russland die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges?

Trägt Russland die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges? Glaubt man dem amerikanischen Historiker Sean McMeekin, dann kann daran kein Zweifel bestehen. In seinem Buch vertritt McMeekin zwei Thesen: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sei Russlands Außenpolitik darauf ausgerichtet gewesen, das Osmanische Reich zu zerschlagen, Istanbul zu erobern und die Kontrolle über die Meerengen zu erlangen. Der Balkan sei demgegenüber von zweitrangigem Interesse gewesen. In der Julikrise sei nicht das Deutsche Reich die treibende Kraft gewesen, die einen Krieg wollte und herbeiführte, sondern das Zarenreich. Die Petersburger Führung habe gezielt auf einen großen europäischen Krieg hingearbeitet, um endlich ihre Ambitionen im Nahen Osten durchsetzen zu können. Russland sei nicht in den Krieg gezogen, um Serbien zu schützen. Vielmehr habe es eine grundlegende Veränderung des Status quo im Vorderen Orient angestrebt. Die führenden russischen Politiker und Militärs seien von Abstiegs- und Einkreisungsängsten geplagt worden, von dem Gefühl, dass die Zeit knapp werde und ein Krieg baldmöglichst herbeigeführt werden müsse, bevor das Osmanische Reich die Modernisierung seines Heeres und seiner Flotte abschließen könne.

McMeekins Buch beruht auf umfangreichen Archivrecherchen. Die einzelnen Kapitel behandeln sowohl die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges als auch den Kriegsverlauf an der Kaukasusfront, die bekanntlich zu den Stiefkindern der Weltkriegsgeschichtsschreibung gehört. McMeekin untersucht die russischen Vorkriegsplanungen, die Julikrise, die Kriegsziele des Zarenreiches, die Kriegführung an der Kaukasusfront, das Gallipoli-Unternehmen, die Massaker an den Armeniern und auch die russischen Versuche, Teile Nordpersiens zu erobern. McMeekin ist der Ansicht, dass der Anteil Russlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieges lange Zeit sträflich vernachlässigt worden sei. Mit seiner russlandzentrierten Darstellung schreibt er gegen ein traditionelles, aber schon vor langer Zeit in Misskredit geratenes Leitmotiv der Weltkriegsforschung an - dass das Deutsche Reich die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges trage. McMeekin plädiert dafür, das Zarenreich als eigenständigen Akteur wahrzunehmen, der eigene Ambitionen verfolgt habe und nicht nur Erfüllungsgehilfe seiner Verbündeten Frankreich und Großbritannien gewesen sei.

Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen der Julikrise, die den Schwerpunkt meist auf das Geschehen in Berlin und Wien legen, untersucht McMeekin die vier Wochen zwischen dem Attentat von Sarajewo und dem Kriegsausbruch konsequent und ausschließlich aus russischer Perspektive. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht die Petersburger Führung, allen voran Außenminister Sergej Sazonov, der in McMeekins Händen zu einer geradezu dämonischen Figur mutiert. Sazonov habe auf volles Risiko gespielt und alles darangesetzt, den großen Krieg herbeizuführen, um die befürchtete Verschlechterung von Russlands außenpolitischer Situation durch einen grandiosen Sieg über das Osmanische Reich abzuwenden. In vollem Bewusstsein der folgenschweren Konsequenzen hätten Sazonov und seine Gesinnungsgenossen Entscheidungen getroffen, die eskalierend wirken mussten. Die am 24./25. Juli beschlossene "Kriegsvorbereitungsphase" sei in Wirklichkeit bereits eine heimliche Mobilmachung gewesen. Mit diesem Schritt habe Petersburg Berlin unter Druck und Zugzwang gesetzt. Die deutsche Reichsleitung habe dann keine andere Möglichkeit gehabt, als ebenfalls mobil zu machen.

Auf das Kapitel über die Julikrise und den Kriegsausbruch folgen Abschnitte über das Kriegsgeschehen im Kaukasus und über das Schicksal der im Osmanischen Reich lebenden Armenier. McMeekin, der seit vielen Jahren in der Türkei lebt und an der Koç-Universität in Istanbul lehrt, macht sich die umstrittene offizielle türkische Sichtweise zu eigen, wonach die Armenier von den Russen als Fünfte Kolonne instrumentalisiert worden seien. Sie seien ein Sicherheitsrisiko gewesen, das ausgeschaltet werden musste. McMeekin lehnt es ab, die Massaker an den Armeniern als Völkermord einzustufen. Den vielen Vorwürfen gegen die russische Führung fügt er noch den hinzu, dass Petrograd die Armenier 1915 im Stich gelassen habe. Die Russen hätten nichts getan, um ihren armenischen "Verbündeten" in irgendeiner Weise zu Hilfe zu kommen. McMeekins unverhohlene Parteinahme für die Türken und sein vorwurfsvoller Tonfall gegenüber Russen und Armeniern gehören zu den vielen irritierenden Aspekten des Buches, das sich streckenweise wie eine Anklageschrift liest, nicht wie eine seriöse wissenschaftliche Monographie.

Überhaupt gibt es an McMeekins Buch einiges zu kritisieren. Das betrifft sowohl die Darstellung der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges als auch McMeekins Lesart der Julikrise. McMeekin schreibt explizit gegen Fritz Fischer an, der in den 1960er Jahren die These von der Hauptschuld des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg vertrat. Fischers Positionen werden schon seit geraumer Zeit nicht mehr in ihrer Reinform vertreten, so dass McMeekin mit seinem Versuch, das Deutsche Reich zu entlasten, Türen einrennt, die seit langem weit offen stehen. Schwerer wiegt, dass McMeekin die gleichen Fehler begeht wie einst Fritz Fischer: Er blendet den größeren europäischen Kontext aus, konzentriert sich in mitunter obsessiv wirkender Weise auf ein einzelnes Land - in diesem Falle Russland - und stilisiert einen einzelnen Politiker, Sazonov, zum Vabanque-Spieler, der den "Sprung ins Dunkle" gewagt und damit einen ganzen Kontinent ins Unglück gestürzt habe. Die lange Zeit dem Deutschen Reich und Reichskanzler Bethmann-Hollweg zugeschriebene Rolle überträgt McMeekin eins zu eins auf Russland und Außenminister Sazonov. Er nimmt damit eine einseitige und simplifizierende Position ein, die genauso unhaltbar ist wie die von Fritz Fischer.

In unzulässiger Weise bagatellisiert McMeekin Russlands Engagement auf dem Balkan. Die These, Russland sei nicht in den Krieg gezogen, um Serbien zu schützen, ist unsinnig. Serbien war Russlands wichtigster Verbündeter auf dem Balkan. Ihm nicht beizustehen, hätte zu einem katastrophalen Gesichtsverlust geführt und Russlands Großmachtstatus ernsthaft beschädigt. Als der Krieg schließlich ausbrach, zog Russland gegen Deutschland und Österreich-Ungarn ins Feld. Angesichts der erheblichen Belastungen, die der Krieg an der Ostfront mit sich brachte, war an einen Vorstoß gegen Istanbul überhaupt nicht zu denken. Wie verträgt sich das mit McMeekins These, Russland sei es in erster Linie um die Zerschlagung des Osmanischen Reiches gegangen? In Wirklichkeit war der Krieg gegen die Mittelmächte für Russland wichtiger als der Krieg gegen die Türken. "Die kürzeste und sicherste Marschroute nach Konstantinopel" führte eben doch nicht, wie ein ranghoher russischer Militär 1912 meinte, "über Berlin und Wien" (S. 26). McMeekin verweist auf Kriegszieldebatten innerhalb der russischen Führung. Die Tatsache, dass Ende 1914, also nach Beginn des russisch-türkischen Krieges im Oktober, über umfangreiche Annexionen osmanischer Territorien gesprochen wurde, ist kein Beleg dafür, dass diese Annexionspläne schon Jahre vor dem Krieg die ausschlaggebende Triebkraft der russischen Außenpolitik waren. Zu guter letzt blendet McMeekin aus, dass es in Petersburg - wie auch in allen anderen europäischen Hauptstädten - nicht nur Falken, sondern auch Tauben gab. Sazonovs Risikostrategie, wenn es sie denn in der von McMeekin beschriebenen Form gegeben hat, wurde beileibe nicht von allen russischen Politikern und Militärs befürwortet.

McMeekins Buch ist insofern wichtig und verdienstvoll, als es die Frage nach Russlands außenpolitischen Prioritäten und seinem Verhalten in der Julikrise aufwirft. McMeekins Beitrag zu einem differenzierten Blick auf Russlands Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird jedoch geschmälert durch den tendenziösen Grundton der Darstellung und die vielen Übertreibungen, Zuspitzungen und Vereinfachungen, unter denen das Buch leidet. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Februar 2014 bei Amazon gepostet)

Cover des Buches The Russian Revolution: A New History (ISBN: 9781781259030)
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Rezension zu "The Russian Revolution: A New History" von Sean McMeekin

Andreas_Oberender
Im Osten nichts Neues

Sean McMeekin ist ein ungemein produktiver Autor. Seit 2003 hat der amerikanische Historiker sieben Bücher veröffentlicht – und er ist erst 44 Jahre alt. In seinem neuesten Buch behandelt McMeekin eines der anspruchsvollsten historischen Themen überhaupt, die Russische Revolution von 1917. Der Untertitel verspricht eine "Neue Geschichte" des Revolutionsjahres. Ein Blick ins Quellenverzeichnis offenbart, dass Material aus nicht weniger als 24 europäischen und amerikanischen Archiven in das Buch eingeflossen ist. Die eindrucksvolle Liste der Archive weckt beim Leser hohe Erwartungen – die McMeekin jedoch nicht erfüllt. Das Buch weist einige Stärken, aber auch erhebliche Schwächen auf. McMeekin möchte westliche und marxistische Deutungsmuster aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hinter sich lassen. Er wirbt dafür, zu den Quellen zurückzugehen, den Ereignisverlauf detailliert zu rekonstruieren und die Perspektive der historischen Akteure einzunehmen, die den Ausgang der Geschichte nicht hätten absehen können. Dieser Ansatz ist begrüßenswert. Anders als es die marxistische Geschichtsschreibung Glauben machen wollte, war die Revolution von 1917 nicht unausweichlich. Mit seiner kleinteiligen Schilderung des Ereignisverlaufes will McMeekin zeigen, dass die Geschichte auch ganz anders hätte verlaufen können, wenn bestimmte Akteure in bestimmten Situationen anders gehandelt hätten. Die Entscheidungen – und Fehlentscheidungen – von konkreten Personen trieben das Geschehen voran, nicht ominöse "Klassengegensätze" oder gesichtslose Kollektive wie das "Proletariat". Stärker als andere Autoren betont McMeekin, dass die Revolution während eines Krieges ausbrach. Die Wechselwirkungen zwischen Front und Hinterland nehmen breiten Raum in der Darstellung ein.

McMeekin hat sein Buch in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil behandelt er die späten Jahre des Zarenreiches, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den Kriegsverlauf bis zur Jahreswende 1916/17. Die Teile 2 und 3 sind dem Revolutionsjahr 1917 gewidmet, von der Abdankung des Zaren im Februar bis zur Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober. Im vierten Teil geht McMeekin auf den Russischen Bürgerkrieg ein. Das Buch endet mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Rapallo im Frühjahr 1922. McMeekins Darstellung ist politik- und militärgeschichtlich angelegt. Viele Aspekte, die in einer Geschichte der Revolutions- und Bürgerkriegszeit eigentlich vorkommen müssten, interessieren McMeekin nicht. Das gilt etwa für die eigenmächtige Landnahme der Bauern nach der Februarrevolution. Da die Bauern nicht gewillt waren, auf eine geordnete Landreform zu warten, handelten sie auf eigene Faust: Sie vertrieben die Gutsbesitzer und eigneten sich das Ackerland an. Dieser gewaltige anarchische Eigentumstransfer ist McMeekin keine einzige Zeile wert. Ein zweites Manko des Buches: McMeekin lässt seine Geschichte ausschließlich in den beiden Metropolen Petrograd und Moskau spielen. Was jenseits der beiden Hauptstädte geschah, ist für ihn offenbar ohne Belang. Auch der Zerfall des Russischen Reiches findet nur ganz am Rande Erwähnung. Beim Lesen des Buches drängt sich zudem der Eindruck auf, die Bevölkerung habe der Revolution nur als passiver Beobachter beigewohnt. McMeekin konzentriert sich auf einige wenige Akteure: Die Provisorische Regierung, Lenin und die Bolschewiki, die Armeeführung. Die ungeheure Dynamik, die die Revolution quer durch alle Schichten der Gesellschaft auslöste, wird bei McMeekin nicht einmal ansatzweise greifbar.

Zuzustimmen ist McMeekin in der Einschätzung, dass das Zarenreich weder am Vorabend des Weltkrieges noch zur Jahreswende 1916/17 in einer existenzgefährdenden Krise steckte. Vor Kriegsausbruch war die politische Lage vergleichsweise stabil, die wirtschaftliche Situation sogar ausgezeichnet. Wie neuere militärgeschichtliche Studien gezeigt haben, schlug sich die russische Armee im Krieg besser als traditionell angenommen. Ende 1916 war die Lage an der Ostfront aus russischer Sicht schwierig, aber keineswegs hoffnungslos. Eine vergleichsweise banale Versorgungskrise an der Heimatfront führte schließlich im Februar 1917 zum jähen Zusammenbruch der Monarchie. Zar Nikolaus II. dankte allerdings nur deshalb ab, weil Teile der Armeeführung und das liberale Bürgertum das Vertrauen in ihn verloren hatten. Hätten die Generäle und das politische Establishment fest zum Zaren gestanden, wäre es ein Leichtes gewesen, die Massendemonstrationen in Petrograd zu unterbinden. Doch der glücklose und diskreditierte Zar musste den Weg freimachen für einen politischen Neuanfang. Die Intrigen und Machtspiele in der Hauptstadt schildert McMeekin sehr anschaulich. Die weitere Geschichte, die er erzählt, ist jedoch seit langem gut bekannt, und archivalische Quellen, die er hier und da heranzieht, lassen sie nicht in einem neuen Licht erscheinen. Der Kenner der Materie erfährt nichts Neues über die Doppelherrschaft von Provisorischer Regierung und Petrograder Sowjet, über die unaufhaltsame Verschlechterung der Lage, die einer kleinen linksradikalen Minderheit in die Hände spielte, Lenin und den Bolschewiki. Immer wieder erweist es sich als Nachteil, dass sich McMeekin strikt auf die Ereignisgeschichte konzentriert und so wenige Akteure in den Blick nimmt. Ideologie und politische Ziele der Bolschewiki bleiben nebulös. Auf andere Parteien, sei es aus dem bürgerlichen, sei es aus dem linken Spektrum, geht McMeekin gar nicht erst ein.

Gegen Ende hin wird das Buch immer unergiebiger. In den Kapiteln über den Bürgerkrieg referiert McMeekin nur noch allgemein bekanntes Handbuchwissen. Anstatt zu schildern, wie die Bolschewiki ihre Herrschaft errichteten und ausübten, geht er allzu ausführlich auf Themen von zweitrangiger Bedeutung ein, etwa den Verkauf russischer Goldreserven ins Ausland und den Raub von Kirchenschätzen. Dabei "recycelt“ McMeekin Material aus seinen früheren Büchern. Insgesamt hinterlässt McMeekins Geschichte der Russischen Revolution einen unbefriedigenden Eindruck. Das Buch bietet viel weniger, als es der Untertitel ankündigt. Es bietet viele Nahaufnahmen, aber kein großes Gesamtbild. Sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte der Revolution bleiben außen vor. Die minutiöse Rekonstruktion des Geschehens in Petrograd zwischen Februar und Oktober 1917 lässt das Buch bisweilen methodisch altbacken wirken. In den Archiven hat McMeekin keine sonderlich interessanten und erst recht keine spektakulären Funde gemacht. Was das "Neue" an seiner Revolutionsgeschichte sein soll, bleibt nach der Lektüre unklar. Gewollt oder ungewollt erweckt McMeekin den irreführenden Eindruck, die Revolution sei nur eine Angelegenheit von ein paar bürgerlichen Politikern und radikalen Marxisten gewesen. Die politischen Akteure auf der einen und die Bevölkerung auf der anderen Seite werden nicht in Beziehung zueinander gesetzt. Russland war 1917 für einige Monate "das freieste Land der Welt". Von der Aufbruchsstimmung, die die gesamte Gesellschaft erfasste, ist bei McMeekin überhaupt nichts zu spüren. Sean McMeekins Buch gehört zu den schwächeren Neuerscheinungen, die das Jubiläumsjahr 2017 hervorgebracht hat. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Januar 2018 bei Amazon gepostet)

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