Nicht viele Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg bieten so viel Zünd- und Diskussionsstoff wie Sean McMeekins Buch über die Juli-Krise. Der amerikanische Historiker ist noch einmal zu den Quellen - sowohl veröffentlichten als auch unveröffentlichten - zurückgegangen, um den Verlauf der Juli-Krise Tag für Tag detailliert und minutiös zu rekonstruieren. Auf den ersten Blick mag eine streng chronologisch angelegte Darstellung simpel und altmodisch wirken. McMeekins Buch, ein klassisches Beispiel für die zu Unrecht geschmähte "Ereignisgeschichte", ist aber alles andere als simpel. Der Autor entwirft ein komplexes Bild, bezieht er doch sechs Staaten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Serbien, Russland, Frankreich und Großbritannien) in seine Darstellung ein, die einem akteursbezogenen Ansatz verpflichtet ist, während strukturelle Faktoren weitgehend unberücksichtigt bleiben. Der für die Juli-Krise relevante Personenkreis beläuft sich bei McMeekin auf über 80 Haupt- und Nebenakteure (Monarchen, Regierungschefs, Außenminister, Diplomaten und Militärs).
Die minutiöse Wiedergabe des Ereignisablaufs mag pedantisch wirken, doch ist es für McMeekins Argumentation von entscheidender Bedeutung, wer wann welches Telegramm gelesen hat und wie der aktuelle Informationsstand (inkl. Falschinformationen und Informationslücken) das Denken, die Intentionen und die Entscheidungen der beteiligten Akteure beeinflusste. Es ist eine große und respektgebietende Leistung, ein solch dichtes und kompliziertes Geflecht von Kommunikations- und Handlungssträngen in einer auch für Laien gut lesbaren Form darzustellen. Diese anspruchsvolle Aufgabe hat McMeekin bravourös gemeistert. Zu keinem Zeitpunkt hat man als Leser das Gefühl, den Überblick über die Akteure, ihre Motive und ihr Handeln zu verlieren. Das sollten auch jene anerkennen, die nach der Lektüre McMeekins Deutung der Juli-Krise nicht zustimmen.
Um bei der klassischen Unterscheidung zu bleiben: McMeekin untersucht den Anlass des Ersten Weltkrieges, nicht seine Vorgeschichte und seine weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Ursachen. Grundkenntnisse über die Geschichte des europäischen Mächtesystems zwischen 1890 und 1914 können bei der Lektüre nur hilfreich sein. McMeekin konzentriert sich ganz auf die Zeit nach dem Attentat von Sarajewo. Er geht zunächst darauf ein, wie die Führungen der fünf Großmächte auf das Attentat reagierten. Danach schildert er die einzelnen Etappen der Juli-Krise bis hin zu den wechselseitigen Kriegserklärungen Ende Juli/Anfang August. Das Buch endet mit einem Epilog, in dem McMeekin die jeweilige Verantwortung der fünf Großmächte für die schrittweise Eskalation der Krise und den Kriegsausbruch gewichtet und abwägt. Er unterscheidet dabei zwischen Fehlern bzw. fehlerhaften Entscheidungen (sins of commission) und sogenannten Unterlassungssünden (sins of omission). Diese Unterscheidung ist aus McMeekins Sicht keine Haarspalterei, sondern Voraussetzung dafür, den Anteil der einzelnen Mächte am Kriegsausbruch realistisch einschätzen zu können.
Zwei Grundannahmen sind von zentraler Bedeutung für McMeekins Interpretation der Juli-Krise: Das Deutsche Reich habe keinen Präventivkrieg gegen Russland und Frankreich geplant. Zumindest hätten Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg Forderungen des Militärs nach einem Präventivkrieg niemals ihre Zustimmung erteilt. Ein starkes Interesse an einem großen europäischen Krieg hätten hingegen Russland und das nach Revanche trachtende Frankreich gehabt. Sie seien im Juli 1914 kriegswilliger gewesen als Deutschland und Österreich-Ungarn. Das Zarenreich habe den österreichisch-serbischen Konflikt bewusst verschärft, um ihn zu einem europäischen Konflikt auszuweiten. Mit Rückendeckung Frankreichs und Großbritanniens habe Russland seinen Plan umsetzen wollen, endlich das Osmanische Reich zu zerschlagen und die Meerengen unter russische Kontrolle zu bringen. Ohne einen allgemeinen europäischen Konflikt wäre es dem Zarenreich nicht möglich gewesen, gegen das Osmanische Reich vorzugehen. McMeekin greift hier einen Gedanken auf, den er in einem früheren Buch über Russlands Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges entwickelt hat.
Damit will McMeekin nicht sagen, dass Deutschland und Österreich-Ungarn keine Schuld am Ausbruch des Weltkrieges trifft. Die beiden Verbündeten waren sich einig, dass ein rein diplomatischer Erfolg gegenüber Serbien unzureichend sei. Von den Deutschen energisch ermuntert, wollte Österreich-Ungarn einen lokal begrenzten Strafkrieg gegen Serbien führen, aber keinesfalls einen großen europäischen Krieg vom Zaun brechen. Berlin und Wien gaben sich der Illusion hin, Russland werde untätig bleiben. Ohne den berühmten "Blankoscheck" aus Berlin - die Zusage voller Unterstützung, und zwar auch im Falle russischen Eingreifens - hätte die Kriegspartei in Wien niemals die Oberhand gewinnen können. Der folgenschwere Fehler der deutschen Reichsleitung bestand darin, den "Blankoscheck" zu erteilen und danach wochenlang keinen Einfluss auf Wiens weiteres Vorgehen zu nehmen. Der österreichische Außenminister Berchtold beging immer wieder katastrophale Fehler, durch die sich die Lage verschlimmerte (z.B. Verzicht auf die Zusammenstellung eines offiziellen Dossiers über die Verwicklung der serbischen Regierung in das Attentat von Sarajewo; verfrühte Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli). McMeekin ist der Auffassung, dass Wien besser beraten gewesen wäre, bald nach dem Attentat gegen Serbien loszuschlagen und die Entente vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das war auch Berlins bevorzugte Option. Sie wurde aber nicht umgesetzt, weil die Wiener Regierung ihr Vorgehen durch ein Ultimatum diplomatisch absichern wollte.
Als das Ultimatum am 23. Juli in Belgrad übergeben wurde, war es für einen Überraschungsangriff auf Serbien längst zu spät. Russland hatte sich unterdessen in die Krise eingeschaltet. Die von Berlin und Wien beabsichtigte Lokalisierung des Konflikts war nicht mehr möglich. Serbien nicht beizustehen hätte Russlands Einfluss auf dem Balkan gefährdet. Dreh- und Angelpunkt von McMeekins Argumentation ist die These, der russische Außenminister Sasonow habe sich bereits am 24. Juli für den Krieg entschieden, also noch vor Ausarbeitung und Übergabe der serbischen Antwortnote. Sasonow habe Belgrad darin bestärkt, die österreichischen Bedingungen nur teilweise anzunehmen. Außerdem habe er Serbien russische Unterstützung für den Kriegsfall zugesagt. Parallel dazu hätten sich die Regierungen Russlands und Frankreichs während des Poincaré-Besuches in Petersburg zugesichert, ihren jeweiligen Bündnispflichten nachzukommen, sollte es zum Krieg kommen. Durch die französische Rückendeckung ermutigt, habe Sasonow mit der sogenannten "Kriegsvorbereitungsphase" (period preparatory to war), die in der Nacht vom 25. zum 26. Juli begann, eine Art geheimer Mobilmachung eingeleitet. McMeekin sieht darin die entscheidende Weichenstellung in Richtung Krieg. Er verweist auf eine interne Definition des russischen Militärs von 1913, wonach die Kriegsvorbereitungsphase dem Beginn der Kampfhandlungen unmittelbar vorausgehen sollte. Sie komme daher einer inoffiziellen Mobilmachung gleich.
Geheimhaltung war deshalb geboten, so McMeekin, weil Russland einen Vorsprung vor den Mittelmächten gewinnen und überdies nicht als Aggressor dastehen wollte. Um Großbritannien auf ihre Seite zu ziehen, waren Frankreich und Russland bestrebt, den Schwarzen Peter den Mittelmächten zuzuschieben. Das fiel ihnen umso leichter, als Berchtold am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte - gegen den Rat der österreichisch-ungarischen Militärführung und ohne Wissen Berlins. Ende Juli hatte sich die Krise bereits dramatisch zugespitzt. Zu den bereits begangenen Fehlern kamen neue Fehler hinzu: Der britische Außenminister Grey, der sich lange nur oberflächlich mit dem Geschehen auf dem Kontinent befasst hatte, ignorierte alle Hinweise auf die russischen Kriegsvorbereitungen. Er drängte Berlin, mäßigend auf Wien einzuwirken, unterließ es aber, Paris aufzufordern, es solle seinerseits mäßigend auf Petersburg einwirken. Das war gleichbedeutend mit einer vorweggenommenen Parteinahme für Frankreich und Russland. Die deutsche Reichsleitung wiederum spekulierte zu lange auf Großbritanniens Neutralität und nahm Greys Vorschläge nicht ernst, die am österreichisch-serbisch-russischen Konflikt unbeteiligten Mächte sollten sich als Vermittler einschalten. Daher sah auch Wien keinen Grund, von einem Militärschlag gegen Serbien abzusehen.
Binnen weniger Tage war der große Krieg da, den - so betont McMeekin - Deutschland und Österreich-Ungarn nie gewollt hatten. Nacheinander machten die Großmächte mobil. Es folgten die ersten Kriegserklärungen, und die Londoner Regierung nahm den Schutz der Neutralität Belgiens zum Vorwand, um sich auf die Seite Frankreichs und Russlands zu stellen. Obwohl das Deutsche Reich erst nach Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich mobil machte, wurde es als Aggressor wahrgenommen, weil es Frankreich und Russland zuerst den Krieg erklärte, anstatt die Kriegserklärungen aus Paris und Petersburg abzuwarten. McMeekin ist der Meinung, dass eine Mobilmachung schwerer wiegt als eine Kriegserklärung. Er lehnt es daher ab, Deutschland die Haupt- oder gar Alleinschuld am Ausbruch des Krieges zuzuschieben. Alle in der Krise maßgeblichen Monarchen und Politiker hatten in unterschiedlichem Maße versagt. Von einigen Akteuren gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, dass sie von der hochexplosiven Situation, die mit Übergabe des österreichischen Ultimatums an Serbien entstand, überfordert waren. Die Krise eskalierte nicht zuletzt deshalb, weil etliche Politiker und hochrangige Diplomaten den Herausforderungen der Situation nicht gewachsen waren. Dazu zählen Berchtold und der deutsche Außenstaatssekretär Jagow, aber auch Bethmann Hollweg und Grey, der bei McMeekin in einem noch ungünstigeren Licht erscheint als bei Christopher Clark.
McMeekin ist ein Autor, dem es nicht an Selbstsicherheit und Mut zu provokanten Thesen fehlt. Er hat mit seiner multiperspektivischen und quellennahen Studie über die Juli-Krise ein spannendes Buch vorgelegt, das unbedingt lesenswert und diskussionswürdig ist. Zu Widerspruch werden sich all jene herausgefordert fühlen, die bezweifeln, dass die Kriegsvorbereitungsphase in Russland mit einer geheimen Mobilmachung gleichzusetzen ist. Einspruch werden sicher auch jene erheben, die der Ansicht sind, das Deutsche Reich habe mit einer "Strategie des kalkulierten Risikos und der begrenzten Offensive" aus der diplomatischen Einkreisung auszubrechen versucht, die Entente sprengen wollen und dabei einen großen Krieg billigend in Kauf genommen. McMeekin setzt sich nicht ernsthaft mit der gut dokumentierten Tatsache auseinander, dass sich die deutsche Militärführung den Krieg gegen Frankreich und Russland lieber früher als später wünschte, vor einer Veränderung des militärischen Kräftegleichgewichts zum Nachteil Deutschlands. Im Sommer 1914 schien die Gelegenheit für den Befreiungsschlag gekommen. Kontroverse Debatten um McMeekins Buch sind deshalb abzusehen.
Die Rezension ist wieder mal recht lang geworden, aber ich hoffe doch, dass sie allen Interessierten einen brauchbaren Überblick über McMeekins Thesen und Argumentationsweise vermittelt.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im März 2014 bei Amazon gepostet)









