Rezension zu "Löwinnenherz" von Sengül Obinger
Zum Inhalt:
"Ich bin eine Überlebende. Ich habe nicht nur Jahre des Terrors und unbeschreiblicher Gewalt überstanden. Ich habe einen Ehrenmordanschlag überlebt. Acht Schüsse feuerte mein damaliger Ehemann aus nächster Nähe auf mich ab, und wie durch ein Wunder verfehlte jede einzelne Kugel ihr Ziel. Sie verfehlten mich." (Seite 8)
Sengül wird in Nürnberg geboren und wächst dort im Kreise ihrer türkischen Familie auf. Sie ist eine sehr gute Schülerin. Doch darauf legen ihre Eltern gar keinen Wert.
Mit 18 Jahren wird sie schließlich - gemäß der anatolischen Tradition - verheiratet. Von Anfang an mag sie Refik nicht besonders. Doch ihre Hoffnung: sie möchte sich möglichst schnell nach der Hochzeit scheiden lassen. Doch es kommt alles ganz anders. Refik wird gewalttätig. Er prügelt sie und auch die kleine Tochter.
Bei ihrer Familie stößt Sengül auf Ablehnung und kann von ihnen keinerlei Hilfe erwarten. Doch sie, die ihr Leben lang klein gehalten wurde, möchte raus aus dieser Hölle. Sie möchte lernen, arbeiten und voran kommen. Doch das gefällt Refik natürlich überhaupt nicht. Schließlich kommt es zum großen Negativ-Höhepunkt: er schießt auf sie - und schließlich bringt er sich um
Doch damit ist Sengüls Leidensgeschichte noch lange nicht zu Ende: von Refik hat sie Schulden geerbt. Sie muss ihr Leben völlig neu ordnen und lernen, mit allem selber klar zu kommen.
"Den Terror meines ersten Ehemannes, der nicht erfahren durfte, dass ich lernte. Die Schmerzen der Prellungen und Blutergüsse, die er mir vorzugsweise am Kopf zufügte, unter den Haaren, damit andere nicht sehen konnten, wie sehr er mich misshandelte. War er endlich eingeschlafen, stand ich leise auf, holte meine Bücher aus dem Versteck, setzte mich hin und lernte. Jahrelang lernte ich zwischen zwölf und drei Uhr nachts, während ich tagsüber zur Schule ging, den Haushalt verrichtete und meine Tochter versorgte. Lernen war für mich Luxus, und ich stahl mir die Zeit dafür, auch wenn sie eigentlich gar nicht da war." (Seite 9)
Meine Meinung:
"Ich war sicher, dass der vorzeitige Verlust meiner Jungfräulichkeit mein Todesurteil bedeuten würde: Denn nach der Hochzeitsnacht wird allen Verwandten das blutige Leintuch gezeigt, zum Beweis, dass die Braut vor ihrer Hochzeit noch unberührt war. Wenn das nicht möglich ist, überlebt die Braut diese Nacht häufig nicht." (Seite 34)
Begriffe wie Ehrenmord, Frauenrechte und Integration sind in Deutschland in den letzten Jahren an der Tagesordnung. Nur zu oft liest man in den Medien etwas, und schüttelt als Deutscher nur den Kopf, weil man es nicht verstehen und nachvollziehen kann. Und genauso ging es mir während des Lesens von Sengüls Buch.
Erschreckend bildlich beschreibt die junge Frau, wie sie in Deutschland aufwuchs. Im freien Deutschland, doch gefangen auf der türkischen Insel, die ihre türkische Familie darstellte.
Mit großem Eifer ging sie zur Schule und war wiss- und lernbegierig. Doch ihre Eltern wussten das zu unterdrücken. Schließlich war sie "nur" ein Mädchen. Die müssen ja nicht lernen. Die müssen später gute Hausfrauen, Mütter und Ehefrauen sein.
Während hier mein Kopfschütteln begann, setzte es sich immer weiter fort. Sengül beschreibt, was für eine Hölle ihre erste Ehe für sie bedeutete. Sie wurde fast tagtäglich verprügelt und weiter klein gehalten. Ihr Mann prügelte sogar ihr Baby. Es war ja auch "nur" ein Mädchen.
Doch das war noch nicht die Spitze des Eisbergs: als Sengül aus der gemeinsamen Wohnung flüchtet, versucht Refik, sie umzubringen. Doch alle Kugeln verfehlen sie.
"Ich war meinem Ehemann nicht hörig gewesen, hatte mich aufgelehnt und mich von ihm trennen wollen, und daraus war ein Namus Davasi geworden, ein sogenannter Ehrenfall. Ich hatte bitter erfahren, dass die Familie, unser höchstes Gut, eine Art Gefängnis sein kann, in dem es sogar ganz nett zugeht. Man versteht sich mit den Wärtern. Aber sie sagen einem, wo es langgeht und wo die Grenzen sind. Sie reden einem ein, dass die Mauern nur zum eigenen Schutz da seien. Und sollten sie eines Tages weg sein, dann sei man verloren. Und damit das ganze Schutzsystem funktioniere, müssen man sich den Gesetzen beugen." (Seite 128/129)
Sengül ist eine Kämpferin. Das beweist sie in jeder Situation, jahrelang. Sie hat es schließlich geschafft, sich aus den Fesseln ihrer Familie zu befreien. Konnte ich anfangs noch nicht glauben, dass sie zugelassen hat, dass Refik sie und ihre Tochter schlägt, konnte ich ihr doch bald folgen. Was jetzt nicht heißen soll, dass man das dulden kann.
Aber wir - die nicht mit türkischen Wurzeln aufgewachsen sind - können nicht nachvollziehen, welche Wertvorstellungen dort herrschen. Sie hatte Angst, dass ihre Familie vollends mit ihr bricht, und dass sie für alle nur noch eine Schlampe ist, die die Familienehre durch den Schmutz zieht.
Sengül hat in der Tat ein Löwinnenherz. Und auch, wenn sie sich jetzt im Nachhinein dafür Vorwürfe macht, dass sie all das Schlimme zugelassen hat, so kann sie jetzt doch stolz auf sich sein. Sie hat es geschafft! Sie hat ihr Leben völlig neu strukturiert. Sie hat gelernt, viel gearbeitet und es geschafft, sich weiterzubilden.
Sie ist damit zu einem Vorbild für alle geworden, die in einer solchen Situation stecken. Es ist nicht einfach, aus diesem Kreis rauszukommen. Doch mit Kampfgeist und viel Engagement hat sie es geschafft. Das sollten sich auch andere Frauen, denen es so ergeht, zu Herzen nehmen. Am Ende des Buches gibt es auch noch einige Adressen mit Anlaufstellen für Frauen, die Hilfe brauchen.
Alles in allem ist dieses Buch eine sehr erschreckende und aufwühlende Biographie, die viel Schlimmes schildert, und auf Missstände aufmerksam macht. Allerdings zeigt die Geschichte auch, dass es einen Weg gibt, wie man aus alldem herauskommen kann; auch wenn das alles andere als einfach ist. Ein Buch, dass ich jedem nur empfehlen kann.