Was für eine Frechheit, reines imperiales Machtstreben als kurzfristige Militäroperation zu bezeichnen und die Benennung „Krieg“ im eigenen Land zu verbieten. Mit Serhii Plokhy, kommt endlich einmal ein ukrainischer Historiker zu Wort und sagt ganz im Gegenteil: „Die Invasion, die Putin als „Militäroperation“ bezeichnete und die nur ein paar Tage oder höchstens ein paar Wochen dauern sollte, wurde zum größten konventionellen Krieg in Europa seit 1945.“ Dort stehen wir nun also und hören, wie Plokhy erkärt, wie es dazu kommen konnte und wie alles hoffentlich enden wird. Gut?
Aber selbst wenn sich die Hoffnungen der Ukraine auf unangefochtene Souveränität nicht erfüllen, hat Russland sich entlarvt. Es wird schwierig werden, die Welt davon zu überzeugen, dass man seiner Regierung/Regime trauen kann.
Plokhy schreibt in absolut verständlicher Form von dem Angriff Russlands auf die Ukraine, den in der Ukraine kaum einer für möglich gehalten hat, auch Wolodymyr Selenskyj nicht, obwohl mehrfach von den Amerikanern vorgewarnt. Plokhy erzählt von den ersten Tagen und Wochen, von dem Entsetzen, von den Gräueltaten der Russen, von ihren falschen Erwartungen, von dem Leiden der Bevölkerung, vom tapferen Widerstand des ukrainischen Militärs und Paramilitärs, von den Massenfluchten.
Wie konnte dies alles geschehen, dieser Brudermord? Wird doch von Putin, dem alleinigen Aggressor, die Ukraine häufig als Brudervolk benannt und die gemeinsame Geschichte betont; aber wiederum spricht Putin dem Land wiederholt die Berechtigung, ein eigenständiger Staat zu sein, ab. Nationalistische Bestrebungen gab es in der Ukraine aber von jeher, selbst damals, als die ukrainische Sprache verboten war und Veröffentlichungen in ukrainischer Sprache schwer bestraft wurden, wenn sie überhaupt möglich waren.
Nach Gorbatschow musste sich die Sowjetunion neu ordnen, oder das, was von ihr übrig war. „Im November 1988 erklärte Estland als erste Sowjetrepublk seine Souveränität.“ 1991 stimmte die Mehrheit der Ukrainer für die Unabhängigkeit. Selbst in Russlands Herzen gab es Bestrebungen nach mehr Demokratie, bevor Jelzin 1993 sein eigenes Parlament unter Beschuss nehmen ließ. In Russland geht es nie ohne Gewalt ab. Und Moskau will nicht begreifen oder einsehen, dass niemand freiwillig auf seinem Schoß sitzt. Wen es nicht mit Waffengewalt in Schach hält, der läuft davon und das so schnell wie möglich.
Der Verfasser erzählt und erklärt mit Herzblut. Er macht deutlich, dass sich die Welt verändert hat und Moskau sich nicht mehr alles erlauben kann. Er sagt aber auch, dass es ein Fehler der freien Welt war, auf die Annexion der Krim bloß mit lauwarmen Worten zu reagieren, nur um Russland nicht zu erzürnen, denn, „mit der Annexion der Krim wurden Imperialismus und Nationalismus zu zentralen Elementen und Triebkräften der russischen Außenpolitik“. Ebenso war es ein krasser Fehler, der Ukraine auf dem Bukarest-Gipfel 2008 den Weg in die Nato zu verweigern, denn dadurch war die Ukraine, die zuvor auf ihr Atomwaffenarsenal verzichtet hatte, schutzlos. Doch die Souveränität der Ukraine ist wichtig für Europa und für den Frieden in der ganzen Welt. Plokhy stellt natürlich auch dar, wie sich China positioniert, wie die USA, wie Indien, der ferne Osten, die europäischen Länder - und erklärt auch warum.
Man kann in einer Rezension das Gesamtgeschehen nicht zusammenfassen, dazu ist es zu komplex. Man kann höchstens das Faß anstechen. Fest steht, die Weltordnung ist dabei, sich zu verändern und wir sollten uns durch Zeitunglesen und Sachbuch so umfassend informieren wie möglich. Weil es uns alle angeht. Serhii Plokhy endet mit den Worten: „Unter enorm hohen Kosten und mit einem gewaltigen Blutzoll ihrer Bürger beendet die Ukraine die Ära russischer Dominanz in einem großen Teil Osteuropas und stellt Moskaus Anspruch auf die Vormacht im restlichen postsowjetischen Raum infrage.“
Fazit: Serhii Plokhys „Der Angriff“ zeichnet sich durch Allgemeinverständlichkeit aus, Zahlen und Fakten sind unvermeidlich, vor allem, wenn der Autor auf einzelne Militäraktionen kommt, aber er erklärt auch vieles, so, dass man den skrupellosen Angriff auch dann versteht, wenn man kein Historiker ist.
Von mir gibt es eine Leseempfehlung!
Kategorie: Sachbuch. Politik. Geschichte.
Verlag: Hoffmann & Kampe, 2023