Rezension zu "Reine Farbe" von Sheila Heti
Was zur Hölle ist das? Ich stolpere durch die ersten Zeilen und sehe mich erstaunt um. Was ist das für eine Form, was für ein Genre? Was erwartet mich hier? Auf jeden Fall etwas Anderes, Intensives, das langsam und mit voller Aufmerksamkeit gelesen werden will.
Zunächst erscheint Gott und tritt an Tag 6 seiner Schöpfung einen Schritt zurück, um sein Werk auf sich wirken zu lassen. Dieser Moment, in dem er seinen ersten Entwurf begutachtet dauert schon die Ewigkeit auf dieser Erde. Vielleicht ist dieser Entwurf nicht gut genug und es wird einen Zweiten geben.
Mira ist Kunststudentin an der Akademie der Kritiker. Eine von uns in DIESER Welt des ersten Entwurfs. In dieser Welt erschafft die Kunst eine zweite, in der wir (Gott) „zeigen, wie die nächste Version unserem Wunsch nach aussehen sollte.“ Mira erzählt von ihrer Ausbildung zur Kunstkritikerin, ihrem Job als Lampenverkäuferin, von der Liebe zu einer Freundin, ihrem Leben. Sie wirkt seltsam fremd, kontur- und orientierungslos, bis ihr Vater stirbt. Als seine Seele sich mit ihrer verbindet, erfährt sie den friedlichsten Moment ihres Lebens, in den sie das Bedürfnis hat, noch tiefer einzutauchen.
Es geht um Glauben, Spiritualität, Philosophie, Psychologie, Klimakrise und vieles mehr. Alles wird verwoben zu einer Art neuer Schöpfungsgeschichte mit Mira im Mittelpunkt, die nach einer Daseinsform sucht, in der sie das Menschsein erträgt.
Der Ton ist getragen, mystisch, distanziert. Doch kommt er aus tiefster Seele mit bedeutungsvollen Sätzen. Aus den kurzen Kapiteln (manchmal nur ein Satz) hängen offene Enden. An denen ich zeitweise verzweifel, weil ich sie nicht verstehe und gleichzeitig erglühe, weil sie sich auf einer höheren gefühlsmäßigen Ebene doch erschließen.
Dieser Text erfordert ein Einlassen sowie das Loslassen von Erwartungen. Er schenkt im Gegenzug Schönheit, Neudenken, manchmal auch ein Hineinfließen. Mich hat er in seiner Komplexität, besonderen Form und Sprache beglückt.