Rezension zu "Der große Wunsch" von Sherko Fatah
„Dein Name, Murad […]. Hast du uns nicht einmal erzählt, dass er so viel bedeutet wie: der große Wunsch?“ (S.272).
Murads tiefster Wunsch ist es, seine Tochter Naima zu finden und sie dazu zu bewegen, nach Deutschland zurückzukehren. Denn seine Tochter hat sich im Zuge ihrer Beziehung zu Faruk, den sie über das Internet kennengelernt hat, dem IS angeschlossen und ist mit ihm nach Syrien geflohen. Und so reist Murad, der in Berlin als Sozialarbeiter tätig ist, ebenfalls recht überstürzt und leicht blauäugig in die kurdisch türkisch-syrisch-irakische Grenzregion.
In einem verschlafenen Ort, geprägt von karger Landschaft, verbringt er zähe Tage, die nur von sporadischen Nachrichten seiner zweifelhaften Mittelsmänner durchbrochen werden; gelegentlich erreichen ihn weitergeleitete Fotos einer verschleierten Frau und tagebuchähnliche Audioaufnahmen. Für Murad gestaltet sich der Aufenthalt als ein repetitiver Alltag des Hoffens, Wartens sowie einer intensiven Innenschau. Doch die entscheidenden Fragen sind: Handelt es sich wirklich um seine Tochter? Und welche Beweggründe führten die gebildete und liberal erzogene Naima zu diesem radikalen Schritt? Hat Murad möglicherweise Anteil an Naimas Entscheidung?
Der Wartemodus, die Leerstellen und ein allumfassender Schwebezustand prägen nicht nur Murads Schicksal, sondern auch das der Leser*innen und darauf muss Mensch sich wohl einlassen können. Denn mit Ausnahme des Endes darf man als Leser*in keine spannungsgeladene oder plotgetriebene Geschichte erwarten und sollte sich außerdem darauf einstellen, dass der Fokus weitaus mehr auf Murad als auf Naima liegt.
Hat mich dies zunächst etwas enttäuscht und entsprach es aufgrund der Inhaltsangabe nicht ganz meiner Erwartungshaltung, muss ich anerkennen, dass es Sherko Fatah letztendlich gelungen ist, mich trotz der eher subtil aufgebauten Spannung, der atmosphärischen und entschleunigenden Schlichtheit zum Weiterlesen zu bewegen. Denn im Kern entwickelt sich eine lesenswerte tiefgehende Spurensuche in doppelter Hinsicht, bei der die Metaphern der Grenzen und des Dazwischen von zentraler Bedeutung sind. Einerseits steht dabei u.a. die Reflexion über die eigene Herkunftsgeschichte und die der Eltern, über das Leben zwischen zwei "kulturellen Stühlen" sowie die Erfahrungen von sozialer Deklassierung und Fremdheit im Fokus. Andererseits wagt Murad auch einen zunehmend ehrlichen Blick auf seine eigene Rolle als Vater und ergründet die Ursachen, die zu einer zunehmenden Entfremdung von seiner Tochter und ihrer radikalen Entscheidung führten. Somit kann „Der große Wunsch“ nicht nur als literarische Charakterstudie, sondern auch als Art alternativer „Bildungsroman“ gelesen werden und das lohnt sich schon. In seiner Gesamtkomposition demnach im Endeffekt stimmig - auch, wenn ich in diesem Kontext das Ende dagegen wiederum als regelrechten Bruch empfand und es mich etwas unbefriedigt sowie ratlos zurückgelassen hat. Ich vermute, dass der Roman nicht jede*n gleichermaßen ansprechen wird und ich kann das gut nachvollziehen. Für mich hat sich die Kraft des Romans, der auf der Shortlist von @buchpreis stand erst im Nachhinein entfaltet und ich konnte im Nachhinein definitiv etwas für mich daraus mitnehmen. Daher keine absoluten Jubelschreie, aber auch keine Nicht-Empfehlung😏!