Cover des Buches Nachts ist es leise in Teheran (ISBN: 9783462048919)
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Rezension zu Nachts ist es leise in Teheran von Shida Bazyar

Ein absolut bemerkenswerter Roman

von zeilenwanderer_ vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Ein stimmungsgeladenes, einfach anderes Buch, das den Geist der Zeit trifft und zum Nachdenken anregt.

Rezension

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zeilenwanderer_vor 6 Jahren
https://zeilenwandererblog.wordpress.com/2017/12/11/rezension-shida-bazyar-nachts-ist-es-leise-in-teheran/


Kurzbeschreibung:
In Nachts ist es leise in Teheran geht es um die Geschichte einer iranischen Familie, bestehend aus dem Elternpaar Behsad und Nihad sowie ihren Kindern Laleh, Morad und Tara, die, gezwungen durch die politischen Umstände in ihrer Heimat, nach Deutschland flieht und dort Exil findet. Der Roman befasst sich mit ihren Anstrengungen zu immigrieren und der Verortung der unterschiedlichen Identitäten zwischen den Kulturen des Irans und Deutschlands.


Meinung:
Wow. Was für ein Werk… Was besonders auffallend an diesem Roman ist, ist zum einen der Schreibstil und zum anderen der gesamte Aufbau des Buches. Anders als die meisten Bücher ist Nachts ist es leise in Teheran nicht strikt in einzelne Kapitel aufgeteilt, sondern in vier große Kapitel in Form von Erzählperspektiven. Die Erzählperspektive wird alle zehn Jahre gewechselt, sodass jedes Mitglied der Familie die Möglichkeit bekommt einen Teil der Geschichte zu erzählen. Dabei übernehmen Behsad, Nihad, Laleh und Mo die größten Abschnitte des Buches. Durch diesen Aufbau werden in den beinahe 300 Seiten Fließtext vier Dekaden gedeckt, angefangen im Jahr 1979, und es liegt mit jedem neuen Kapitel ein Zeitsprung von zehn Jahren sowie ein Sprung in der Erzählperspektive vor. Allein das macht das Buch schon besonders.
Da dieser Erzählstil so besonders ist, gehe ich kurz auf jedes der Kapitel ein.

Den Anfang des Buches macht Behsad im Jahr 1979. Es ist die Zeit der Revolution im Iran, nach der Vertreibung des Schahs und nachdem Khomeni an die Macht gelangte. Behsad schildert seine Zeit an der Seite der Kommunisten, seinem Kampf für eine neue Ordnung im Land, das Verschwinden der Studenten und beschließt mit Nahid, Laleh und Mo nach Deutschland zu fliehen. In Behsads Kapitel wird die Atmosphäre im Iran sehr deutlich dargestellt. Der Kampf von ihm und seinen Kameraden wirkt hoffnungslos und ergreifend.

Nahid setzt zehn Jahre später die Geschichte fort. Sie und ihre Familie sind in Deutschland angekommen, jedoch ist die Lage für sie dort auch nicht makellos. Nahid hat mit der deutschen Kultur stark zu kämpfen und sie hat starke Schuldgefühle, da sie den Iran und ihre restliche Familie dort zurückgelassen hat. Nihads Kapitel ist im Gegensatz zu Behsads nicht von den politischen Sorgen gekennzeichnet, sondern vielmehr von den kulturellen Sorgen und Ängste und Heimweh nach dem Iran.

1999 berichtet Laleh. Ihr Kapitel ist besonders interessant, da es für sie, Nihad und Tara zurück in den Iran geht. Laleh fühlt sich in ihrer Heimat, die sie nur aus Kindheitserinnerungen kennt und sich doch stark mit den Traditionen verbunden fühlt, fremd. Doch auch in Deutschland hat sie Probleme, da sie teilweise mit Vorurteilen in der Schule zu kämpfen hat und immer an ihre Herkunft erinnert wird. In ihrem Kapitel wird deutlich, wie stark jemand zwischen den Kulturen stehen kann und was es für kulturelle Unterschiede gibt. Lalehs Kapitel zeigt dem Leser eine Zerrissenheit und ein nicht vorhandenes Zugehörigkeitsgefühl auf.

Morad, genannt Mo, erzählt 2009 das letzte Kapitel des Buches. Er identifiziert sich als Deutscher und hat mit dem Iran eigentlich gar nichts mehr zu tun. Für ihn wurde die Fremde zur Heimat. Eines Tages erfährt er online von der grünen Revolution und sein Denken ändert sich. Er realisiert nun wofür seine Eltern damals gekämpft haben und beschäftigt sich selbst mehr mit dem Thema.

Jeder der vier Protagonisten im Buch hat einen unterschiedlichen Erzählstil und eine andere Meinung. Durch die verschiedenen Gefühle, den Ton der Charaktere und ihre individuellen Gedanken ist das Buch nicht nur vielschichtig, sondern wirkt sehr authentisch und lebendig. Gleichzeitig fühlt man sich als Leser jeder Person nah, da stets aus der ersten Person Singular berichtet wird. Auch wenn sich alle vier Kapitel mit anderen Themen auseinandersetzen, sprechen sie alle das Thema Heimat und Zugehörigkeit an.

Eine weitere Besonderheit des Buches ist dass die direkte Rede nicht in Anführungszeichen gesetzt ist. Dieses Stilmittel hat beim anfänglichen Lesen für etwas Verwirrung gesorgt, da es leicht ist, die direkte Rede schnell zu überlesen, wenn man nicht aufmerksam liest. Jedoch gewöhnt man sich rasch an den Schreibstil und es ist keinerlei störend. Stattdessen unterstreicht dieser Stil, meiner Meinung nach, die generelle Stimmung des Buches. Das Buch ist verschachtelt und trotzdem sehr poetisch verfasst und durch die wenigen Satzzeichen, wirkt der Text beinahe sanft. Die Autorin schreibt zudem in sehr langen Sätzen und sehr langen Absätzen, was mich teilweise an eine Art Tagebuch erinnert hat. Der Schreibstil lässt das Buch und seine Geschichte zusätzlich auf unterschwellige Art und Weise bedrückend, melancholisch wirken. Man weiß auf jeder Seite, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung ist.


Fazit:
Ein stimmungsgeladenes, einfach anderes Buch, das den Geist der Zeit trifft und zum Nachdenken anregt. Man lernt die iranische Kultur und Geschichte kennen, was ich sehr interessant fand. Der Schreibstil ist einzigartig. Anders. Aber er gefällt mir sehr, auch wenn man ein wenig braucht um ins Lesen reinzukommen. Teilweise zieht sich der Roman ein wenig und ich persönlich habe ich mich manchmal etwas erschlagen gefühlt von der Melancholie, die dieses Buch vermittelt. Trotz allem ist Nachts ist es leise in Teheran eine absolute Leseempfehlung für jeden, der sich für andere Kulturen, Migration und Identität interessiert.



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