Rezension zu "Staatenlos" von Shumona Sinha
Drei Frauen, drei verschiedene Schicksale: Die eine, Esha, stammt aus einer wohlhabenden Familie aus Kalkutta, lebt und arbeitet in Paris und strebt die französische Staatsbürgerschaft an. Die andere, Mina aus Bengalen, ist Analphabetin und Bauerntochter und schwanger vom eigenen Cousin, was eine Schande für sie und die eigene Familie bedeutet. Die dritte, Marie, wurde in Indien geboren, jedoch als Kleinkind von einem französischen Ehepaar adoptiert und befindet sich seit einigen Jahren auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern. Die drei Frauen stehen nur in einer losen persönlichen Beziehung zueinander, ihre Lebenswege berühren sich kaum, doch sie teilen eine große Gemeinsamkeit: Sie sind schwarze Frauen.
Shumona Sinha legt mit Staatenlos einen thematisch hochaktuellen und modernen Roman vor, in dem sie den Finger schonungslos in eine große Wunder der sich als liberal und frei verstehenden Nationen legt: dass wir immer noch in einer sexistischen und rassistischen Gesellschaft leben. Dafür – so zeigt es Sinha – braucht es kein Blick über den Ozean, wo mit Hashtags wie #metoo und #blacklivesmatter auf die strukturellen Missverhältnisse im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hingewiesen wird. Es reicht, in Europa einen Blick vor die eigenen Tür zu werfen und sich umzusehen: Frausein ist immer noch mit Mutterdasein verbunden, Frauen mit wechselnden Partnern haftet in der Vorstellung der anderen immer noch etwas Schandhaftes an, Frauen gehen nicht ohne Pfefferspray aus dem Haus und meiden dunkle Gassen, Straßen und Parks. Und ebenso: Menschen mit ausländischen Namen haben schlechtere Chancen, eine (gute) Wohnung oder einen (guten) Job zu finden, dunkelhäutige Mitbürger werden als Affen und Neger bezeichnet, flüchtige Menschen sind nicht mehr willkommen und sollen eine bestimmte Obergrenze nicht überschreiten. Staatenlos ist voller kluger Alltagsszenen, die die tiefsitzenden diskriminierenden Strukturen offenlegen, voller ungeschönter Worte, die diese Ungerechtigkeiten anprangern und – durch die in der Geschichte geschickt angelegte Gegenüberstellung von Frankreich und Indien – voller Mut, die radikale Frage zu stellen, ob der Westen wirklich so viel fortschrittlicher hinsichtlich der Freiheit von Frauen und Migranten ist, wie er meint.
Der Botschaft des Buches kann ich mich bedenkenlos anschließen und ich halte Staatenlos hinsichtlich der gewählten Thematik für ein wichtiges und geglücktes Buch. Nichtsdestotrotz besteht ein Roman nicht nur allein aus Inhalt: Mir persönlich ist nicht nur wichtig, was erzählt wird, sondern auch wie etwas erzählt wird – und leider konnte mich Shumona Sinha stilistisch nicht von ihrem Vorhaben überzeugen. Insgesamt war mir Staatenlos zu fragmentarisch, das Erzählte wirkte wie flüchtig dahingezeichnet, die Worte – so stark sie von der Autorin gewählt wurden – entwickelten sich nicht zu ebenso solchen starken Bildern in meinem Kopf, die mich mitnahmen, ja mitrissen. Bis zum Schluss blieb ich den Figuren und dem von ihnen Erlebten distanziert und teilnahmslos gegenüber, was auch an der blassen Figurenzeichnung und dem erzählerischen Ungleichgewicht der einzelnen Schicksale liegt. Der Fokus von Staatenlos liegt nämlich, anders als der Klappentext andeutet, eindeutig auf Esha, Mina und Marie spielen nur eine Nebenrolle, letztere dient strukturell gesehen eigentlich nur als Bindeglied des Figurendreiecks. Doch auch Esha, von der wir viel erfahren, erfahren wir auf den knapp 160 Seiten eigentlich nur als schwarze Frau und als Migrantin: Was sie im Inneren bewegt, was sie abtreibt und was sie über die Welt um sicher herum denkt, sehen wir nur durch diese Perspektive; einen Charakter jenseits Hautfarbe und Geschlecht scheint sie nicht zu haben, was der Intention Sinhas meiner Meinung nach entgegenläuft. Darüber hinaus fehlte es mir an einer wirklichen Handlung: In Staatenlos reihen sich vielmehr einzelne Szenen aneinander, die Kapitel sind extrem kurzgehalten, die Perspektive wechselt immer wieder sprunghaft. Dies alles lässt das schmale Büchlein einerseits überfrachtet wirken, andererseits wurde in dem Sinne fast zu wenig erzählt, dass die einzelnen Begebenheiten nicht voll „auserzählt“ werden, sondern lose in die Erzählwelt gestellt werden.
Nach dieser Lektüre bin ich nicht abgeneigt, weitere Bücher von Shumona Sinha zu entdecken, da sie mich mit ihrer thematischen Kompromisslosigkeit überzeugt und angesprochen hat. Die Umsetzung ihrer brillanten Gedanken konnte mich in Staatenlos jedoch nicht überzeugen, die Stärken, die dem Buch eigen sind, wurden durch die fahrige und teilweise einseitige Erzählweise nicht überzeugend an den Leser bzw. die Leserin gebracht. Daher nur 3 Sterne, jedoch durchaus die Aufforderung, dieser interessanten Autorin etwas Lesezeit zu schenken.