Cover des Buches Vielen Dank für das Leben (ISBN: 9783423143417)
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Rezension zu Vielen Dank für das Leben von Sibylle Berg

Die Krone der Schöpfung

von thursdaynext vor 9 Jahren

Rezension

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thursdaynextvor 9 Jahren

Toto, groß, unförmig, in der DDR als Kind einer Alkoholikerin geboren und kurz darauf ins Heim abgeschoben wächst in sozialistischer Tristesse auf. Sein Lebenbeginn war schwierig genug, sein Geschlecht, bzw. sein nicht existentes Geschlecht, er hat kein zuzuordnendes, ist als Hermaphrodit zur Welt gekommen, erschweren sein Dasein, seine Suche nach Liebe zusätzlich.Weder schön, noch sonderlich intelligent, geschweige denn clever, völlig ohne irgendwelche Ambitionen existiert er. Einzig seine Singstimme ist außergewöhnlich.

„Auf alten Bildern hatte Toto solche gesehen, wie er selbst einer war, sie waren Engel und schwebten nackt an Decken. Aber er konnte sich doch nicht ständig in Kirchen oder Museen neben Engelsdarstellungen plazieren, um sich irgendwo zugehörig zu fühlen.“

Grau ist die Zeichnung des sozialistischen Staates , seiner Bewohner, seiner Nachkriegsfassaden und seines Interieurs. So grau und grausam wie die Menschen mit denen Toto es zu tun hat während seiner Kindheit und Adoleszenz. Als es Toto gelingt in den Westen zu kommen bleibt das Bild grau. Kapitalismus versus Sozialismus schenken sich nichts. Das sinnlose Streben nach Konsum und der geschürte Wachstumsglaube machen hier wie da die Menschen zu Marionetten. Die Freiheit Güter zu kaufen verbessert die Menschen weder, noch ist sie sinnstiftend.

Extrem harte Kost diese Existenz im Zeitenwandel, die sich, für aufmerksame Beobachter eindeutig nachzuverfolgen, dank der Bemühungen jenes Teiles der Menschheit, der die Macht, das Geld, und somit die Möglichkeiten hätte, nicht zum Besseren wandelt für das Gros der Erdbevölkerung.

Hart auch zu erlesen, die Schlechtigkeiten, die Niedertracht die Sinnlosigkeit. Sibylle Berg zählt sie gnadenlos auf . Zynisch eine aufgrund ihres Scharf- und Weitblicks verkommene Romantikerin, die den Leser während ihrer Betrachtungen tief in diesen Sog der des Tristen, Billigen, Bösartigen und der Traurigkeit mit hinab zieht.

Sie macht das großartig. Seziert, denkt die Zukunft weiter. Es gelingt ihr so vollkommen, fast möchte man das Buch verbrennen.

„Vielleicht gibt es einen Vorrat an Mitgefühl, mit dem ein Mensch, wenn er unter gesunden Bedingungen aufwächst, ausgestattet ist. Und der war doch aufgebraucht bei den meisten. Jede Woche gibt es etwas zu trauern, ein Zugunglück, einen Flugzeugabsturz, eine havarierte Bohrinsel, eine gesunkene Fähre, eine Explosion im Bergbau, ein Erdbeben, eine Hitze-, Kältewelle, ein Amoklauf, irgendwo auf der Welt, und in der Nachbarschaft eine Entmietung, eine obdachlose Kleinfamilie, ein Krebsleiden, das wohl nicht gut behandelt wird, wer soll da nachkommen, so viel kann doch keiner wegtrauern.“

Wahrheit in Worte gefasst brennt zwar, aber sie bleibt bestehen, also weiterlesen.

Von Toto, mittlerweile zur Sie gewandelt. Immer noch gütig, gutmütig, uninteressiert an Äußerlichkeiten Sie ist SEIN statt SCHEIN. Sie ist.

Menschlich, wahrhaftig menschlich im positiven Sinne und doch eine Mutation.

Dabei mühsam, eine anstrengende, weil farblos langweilige/r Protagonist/in.

Wie passend, dass er/sie kein eindeutiges Geschlecht, keine Präferenzen und Ambitionen hat.

Daran stört sich auch Kasimir. Reich, homosexuell, der Schönheit verfallen und Sadist.

Zerstören, sich rächen möchte er. Erschaffen kann er ja nichts. Der Mephisto des/der Protagonistin/en.

Toto lebt sich durch die Jahrzehnte, nein sie wird eher mitgezogen, gelebt, bis in eine nicht allzuferne Zukunft. Eine optimierte Zukunft eingeholt von all den Umweltkatastrophen, und soziologischen Horrorszenarien in die die jetzige Welt bereits tendiert.

Frauen regieren diese Welt - Multimilliardäre haben sich in geschützte geheime Refugien zurückgezogen. Die Mittelschicht so noch vorhanden ist überwacht, konform, arbeitssam. Die Schönheit ist verschwunden zusammen mit der Natur. Selbstregulation der Gedanken macht die Menschen zum permanenten eigenen Über – Ich. Da sieht man sie vor sich, die Selbstoptimierungsapps, die Simplify your life Gurus, die alles so simplifiziert und optimiert haben, dass Langeweile, wie Rauchen und Alkohol, zu den völligen No Goes gehören.

Sibylle Berg ist brutal, schreibt brutal...gut! Ihr Blick auf die Gesellschaft ungetrübt von jeglichen Sentimentalitäten, oder zierenden Verschleierungen.

Worte wie Beton. Völlig unverfälscht, praktisch unverwüstlich und doch, ein wenig Licht und Farbe schenkt sie dem Leser gerade dadurch. Durch das ungeschminkte Echte. Das ist Kunst, inklusive Echtheitszertifikat. Ich ziehe meinen imaginären Hut! Also beherzt zugegriffen. Ist

„Danke für das Leben“ doch all jenen gewidmet: „...die sich den Anfeindungen aussetzen, die persönliche Freiheit mit sich bringt.“

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