Ob man ein Buch mag, entscheidet sich oft auf den ersten Seiten. Im Falle von Die Sprache des Kapitalismus ist die Lage jedoch alles andere als eindeutig. „Wenn wir immer nur von Ärzten und Krankenschwestern sprechen statt von Ärzt*innen und Pflegekräften, sind Menschen in weissen Kitteln und hoher Position in Krankenhäusern in unserer Vorstellung männlich und Menschen, die Pflegearbeit leisten, weiblich.“ Heilige Einfalt! Schon möglich, dass die beiden Autoren so ticken, doch derart simpel funktionieren die meisten dann doch nicht. Kurz darauf stosse ich aber auch auf diesen, unmittelbar einleuchtenden und ausgesprochen hilfreichen Satz: „Steigende Preise verbergen im Gegensatz zu Preisen, die erhöht werden, dass es Menschen gibt, die davon profitieren und vielleicht sogar ein Interesse daran haben, dass Konsument*innen sich nicht fragen, wer für die hohen Preise verantwortlich ist."
Diesem Buch liegt die Vorstellung zugrunde, wir könnten mittels Sprache unser Bewusstsein beeinflussen, vielleicht sogar steuern. Ich halte dies für einen Irrglauben. Wir sind viel komplexer, gehorchen keiner linearen Logik. Zudem empfinde ich die *Schreibweise als Bevormundung und reagiere darauf automatisch mit Ablehnung. Soweit die Ausgangslage. Doch jetzt zum Buch, in dem die Autoren darauf hinweisen, „dass Systeme Strukturen entwickeln, die dazu dienen, das jeweilige System zu erhalten.“ Das leuchtet zwar ein, doch wo bleibt die Evidenz? Auch behaupten sie, dass das rassistische System Risse bekommen hat und schreiben dies „aktivistisch arbeitenden Menschen und People of Color (PoC)“ zu. Nun ja, mehr als eine Behauptung ist das nicht. Und keine sehr plausible. In den meisten Grossstädten leben die verschiedenen Rassen übrigens nach wie vor nach Stadtteilen getrennt. Wer schon mal in Grossstädten war, weiss das.
„Sprache, die nicht hinterfragt, analysiert und verändert wird, stabilisiert Systeme, die oft wenigen Menschen sehr viele Vorteile und vielen Menschen noch mehr Nachteile bringen.“ Wenn Linguisten so argumentieren, kann ich das verstehen, denn das rechtfertigt ihren Beruf, doch im Alltag stossen Sprachmissionare in aller Regel auf Widerstand. Allenfalls werden sprachliche Eigenheiten für interessant befunden. So wird etwa im Portugiesischen Geld gewonnen (ganhar dineiro) und nicht verdient. Was soll/kann man daraus ableiten? Gar nichts, in der Praxis arbeiten die Brasilianer genauso für ihr Geld wie etwa die Schweizer oder die Nordamerikaner.
Die Autoren messen sprachlichen Gewohnheiten eine Bedeutung zu, die sie ausserhalb höherer Lehranstalten schlicht nicht haben. Das lehrt einen das Leben. Gleichzeitig stimmt aber eben auch: Wie wir etwas ausdrücken, erfüllt in aller Regel einen bestimmten Zweck. So werden Metaphern (bildliche Vereinfachungen eines komplexen Sachverhaltes) oft sehr gezielt eingesetzt, was Die Sprache des Kapitalismus an vielen Beispielen aufzeigt. Wobei: „Dass diese Metaphern genutzt werden, ist aber noch kein Beweis für ihre Wirkung, die muss rückblickend an konkreten Situationen aufgezeigt werden.“ Das klingt eher nach Rationalisierung als nach Beweisführung.
Nichtsdestotrotz: Die Sprache des Kapitalismus zeigt überzeugend, dass wir uns von Metaphern einlullen lassen, die wir selten bis nie hinterfragen. Treffend formulieren die beiden Autoren: „Ein Unternehmen als 'too big to fail' zu bezeichnen, ist der sprachliche Ausdruck der Weigerung, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob ein System, in dem Unternehmen so gross und mächtig werden können, noch funktioniert und was eine Alternative wäre.“ Möglicherweise liegt das weniger an den Metaphern als am fehlenden kritischen Denken.
Wie auch immer: Die Sprache des Kapitalismus ist ein nützliches Werk, da es nötige Aufklärung über das kapitalistisches System liefert, zu dem die Autoren grundsätzliche Wert-Fragen stellen. Simon Sahner und Daniel Stähr führen erhellend und überzeugend vor, was kritisches Denken ausmacht. Ihren Glauben, die richtige Wahrnehmung (wobei die Sprache eine zentrale Rolle spielt) habe das Potential für Veränderungen, teile ich hingegen nicht. So machen sich weder Brasilianer noch Thais Illusionen über ihre korrupten Regierungen (Korruption? Haben wir nicht, das ist unser System, sagte „meine“ Thailändisch-Lehrerin einmal), doch die meisten machen sich genauso wenig Illusionen darüber, dass sich das jemals ändern wird.
Die Sprache des Kapitalismus lohnt sich zur Bewusstseinsschulung, ist anregend und interessant als Aufklärung über den Kapitalismus. Und zudem gut geschrieben. Möge dieses Plädoyer für sprachliche Genauigkeit dazu beitragen, dass wir uns ernsthaft und eingehend mit Alternativen zu einer kapitalistischen Lebensweise und der Etablierung eines gerechteren Wirtschaftssystems auseinandersetzen.







