Als Edouard vom Tod seines großen Bruders erfährt, hatte er diesen seit 10 Jahren nicht mehr gesehen und empfand nichts. Doch nach der Nachricht seiner Mutter macht er sich sofort auf den Weg um ihr beizustehen. In Rückblicken wird die Geschichte des Bruders und der eher dysfunktionalen Familie des Autors erzählt.
Der große Bruder ist immer an seinen großen Träumen gescheitert und nie einen längeren Job gehabt da er zu viel trank. Die einzelnen Abschnitte und die jeweiligen Frauen in dieser Zeit werden beleuchtet. Daneben gibt es literarische Einschübe von Literatur Klassikern.
Der Schreibstil ist eher nüchtern aufgeklärt, Edouard macht keinen Hehl aus der Beziehung zu seinem großen Bruder der Opfer seiner eigenen hochtrabenden Träumen geworden ist und viel zu früh an Organversagen stirbt. Ich kannte den Autor Edouard Louis bislang noch nicht könnte mir aber vorstellen noch weitere Bücher dieses jungen Autors zu lesen. Trotz der Melancholie dieses Romans kann man nicht aufhören zu lesen.
Sonja Finck
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Neue Rezensionen zu Sonja Finck
Édouard Louis ist einer dieser Schriftsteller, von dem ich jedes Buch UNBEDINGT lesen muss. Oui, ich bin ein Édouard-Fangirl ❤️🔥 ich finde sein Schreiben, sein Auftreten, seine Lesungen, Moderation und Beiträge so unglaublich gut, emphatisch, eloquent, intelligent, charmant. Punkt.
Der französische Autor ist bekannt für sein autofiktionales Schreiben, in dem er sich sehr intensiv, reflektierend und selbstermächtigend mit seiner Herkunft, Familie, Klasse, Zugehörigkeit und Identität auseinandersetzt. Das schafft er auf so eine brillante Art und Weise, dass es über die individuellen Aspekte hinausgeht und zur gesellschaftlichen Debatte um diese Themen beiträgt.
»Während mein Bruder sich betrank, studierte ich Philosophie, las ich Romane.
Während mein Bruder sich betrank, schrieb ich.
Während mein Bruder sich betrank, reiste ich.
Nichts kann diesen Abstand zwischen uns beschreiben. Nichts kann diesen Abstand beschreiben, aber der Abstand beschreibt alles. Der Abstand hat ein Gedächtnis. Auch wenn ich nicht an meinen Bruder dachte, vergaß ich ihn nie.« (204)
Mit seinem neusten Buch »DER ABSTURZ« ordnet er seine Erinnerungen an seinen großen Bruder und schafft daraus Literatur. Er beschreibt, wie Klassenschicksal, Gewaltspirale und Alkoholismus sich potenzieren und eine Welt in der Menschen kaputt gehen und zu früh daran sterben.
»Mein Bruder hatte schon immer die ganze Welt gewollt, seine Träume waren nie klein gewesen, sondern immer riesengroß, […] und ich glaube, es lag an der Größe seiner Träume, an der Diskrepanz zwischen seinen übergroßen Träumen und den Unmöglichkeiten, aus denen sein Leben bestand, den Begrenzungen, Armut, Geldmangel, eine Herkunft aus Nordfrankreich, all das, was sein Schicksal ausmachte, ich glaube, es lag an diesem Widerspruch, dass er so unglücklich war.
Mein Bruder war an seinen Träumen erkrankt.« (16)
Um seinen Bruder besser verstehen zu können, ordnet er nicht nur seine eigenen Erinnerungen, sondern spricht mit weiteren nahestehenden Personen seines Bruders, wie seiner Mutter, aber auch den ehemaligen Geliebten von seinem Bruder. Insbesondere vor dem Hintergrund der großen Diskrepanz zwischen Édouard und seinem Bruder (nicht zu letzt aufgrund dessen Homophobie und Gewalttätigkeit) ist es erstaunlich, wie klar der Autor analysiert und damit u.a. eine universelle Gesellschaftskritik ableitet.
Ich bin sehr gespannt, was nach diesen intensiven, autofiktionalen Werken zu seiner Herkunftsfamilie und Identität als nächstes von diesem großartigen Autor kommen wird und weiß jetzt schon: Ich werde es definitiv lesen. ❤️
Gleich im ersten Satz auf den Tod eines Familienmitglieds zu kommen, scheint eine französische Sache zu sein. Oder Édouard Louis hat sich ein Beispiel an großen Landsmännern (Victor Hugo, Albert Camus) genommen. Er erzählt von seinem älteren Bruder seit dessen Jugend, den hochfliegenden Träumen, überaus positiven Ansätzen, dann vom immer wiederkehrenden Scheitern, von der Vergeblichkeit, den Tiefschlägen.
Louis erzählt im letzten Teil seiner Familiengeschichte zugleich distanziert und mitfühlend, einerseits weil er die Lebensvoraussetzungen in seinem engsten Umfeld genau kennt und ebenfalls durchlitten hat. Er selbst jedoch durfte mehr Möglichkeiten und Bildung erfahren und hat sich emporgekämpft. Andrerseits sind es seine Nächsten, seine engste Familie, besonders geht es immer auch um seine geliebte Mutter. Mir drängt sich mit jedem Lesen eines seiner Bücher der Vergleich mit Annie Ernaux auf, die ja auch nicht auf Rosen gebettet war und ähnlich schonungslos und klar auf sich selbst und ihre Familiengeschichte blickt und von ihr berichtet. Frankreich, und besonders sein Norden, ist keineswegs eitel Sonne, amour und Badeurlaub, sondern gibt seinen Menschen größtenteils harte Unterlagen für einen Start ins Leben. Wer da nicht gefestigt ist, gerät leicht unter die Räder.
Édouard Louis zeigt deutlich, dass er oft eine berechtigt große Abneigung gegen seinen toten Bruder hatte. Gleichzeitig leuchtet aber auch viel Liebe und Verstehen aus den Seiten. Große Träume, die immer wieder an der harten Realität zerschellen müssen, schneiden auch ins Herz der Familie. Fakt Nr. 1 (bis 16) nennt es der Autor, wenn er auf konkrete Vorkommnisse zu sprechen kommt, immer wieder schiebt er Bemerkungen ein und versucht so, allen Aspekten gerecht zu werden. Er schreibt, ebenso wie Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, völlig schnörkellos, nüchtern, in einfachen Sätzen und in transparenten Bildern. Vielleicht gehen die Bücher der beiden deshalb so nah.
Mir hat die Ehrlichkeit gut gefallen, das Illusionslose, Deutliche, Ungeschminkte. Ja, so hart und kalt ist das Leben eben auch, und das in nächster Nachbarschaft. Gewiss keine leichte Strandlektüre, aber man weiß nie, durch welche Umstände man in eine ähnliche Lage geraten kann. Ein Lese-Muss für aufmerksame Menschen unserer Zeit!
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