Das Buch Ein bisserl schimpfen, ein bisserl räsonieren ist eine von Stefan Frank zusammengetragene Sammlung von Leserbriefen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Wiener Zeitschrift Wiener Hausfrau erschienen. Die Leserbriefe sind in elf thematische Kategorien eingeteilt: von Beschwerden über den Straßenverkehr, über Hygiene und Sauberkeit, Kinder und Jugendliche bis zu Mieten und Wohnen. Sie behandeln also ein breites Spektrum an Alltagssorgen der Wiener Bevölkerung zu dieser Zeit.
Ich habe das Buch gerne gelesen. Einzelne der von den Autor*innen der Leserbriefe verwendete Ausdrücke, wie etwa „Trottoirs“ (Gehsteig) habe ich das letzte Mal von meiner leider schon verstorbenen Oma gehört und ließen mich schmunzeln.
Die emotionale Schreibweise der Leserbriefe habe ich sehr genossen. Etwa wenn sich eine Leserin darüber echauffiert, dass es eine Unsitte sei, übergroße Haarschleifen im Theater zu tragen (Seite 44).
Manche der Leserbriefe verleiten dazu, Nostalgie zu empfinden und zeigen, wie sehr sich das Leben in den letzten hundert Jahren doch gewandelt hat - wenn eine Leserin beispielsweise schreibt, Kinder sollen keine Zeitung lesen, da sie Berichte über Morde verstören könnten. Heute, in Zeiten in denen bereits die jüngsten Kinder über soziale Medien wie Tiktok und co mit ungefilterten, grausamen Bildern konfrontiert werden, wünscht man sich vielleicht oft die Zeit der Zeitung, als einzigem Massenmedium zurück.
Einige Leserbriefe zeigen wiederum deutlich, welche Fortschritte in den letzten hundert Jahren erreicht wurden, etwa wenn es um die Einstellung zur Rolle der Frau geht. Spannend sind auch die Leserbriefe, aus denen sich herauslesen lässt, dass manche Probleme, die die schreibenden Zeitgenoss*innen plagten – wie etwa zu wenig Mülleimer an Bahnhöfen – auch 110 Jahre später immer noch Thema sind. Die abgedruckten Leserbriefe sind wirklich unterhaltsam und eine kleine Zeitreise ins Wien der 1910er Jahre. Besonders gefiel mir, wenn eine Antwort auf einen Leserbrief abgedruckt wurde und man so erfuhr, wie andere Zeitgenoss*innen auf die Briefe reagierten.
Während mir die Auswahl der Leserbriefe sehr gut gefiel, muss ich sagen, dass ich mir mehr Erklärungen und Mehrwert gewünscht hätte. Damals gebräuchliche Wörter, wie beispielsweise der schon erwähnte Trottoirs werden nicht erklärt. Generell finden sich im Buch keine Fußnoten und außer einer kurzen Einleitung und einer Seite über das Magazin die „Wiener Hausfrau“ keine weiteren Ausführungen oder Kontextualisierungen. Ich hätte erwartet, auch kurze Informationen über die als Probleme wahrgenommenen Themenbereiche zu erhalten. Wie war das Frauenbild der damaligen Zeit? Welchen sozioökonomischen Hintergrund hatten die Schreiber*innen? Wer besuchte damals Theater und Kaffeehäuser – alle, oder nur die Oberschicht? Im Buch finden sich Leserbriefe abgedruckt und thematisch geordnet. Nicht mehr und nicht weniger. Mithilfe des tollen Projekts ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek kann allerdings jede und jeder gratis auf die Zeitung und die Leserbriefe zugreifen und sie lesen. Daher hätte ich mir vom Buch und auch vom Autor mehr erwartet. Natürlich weiß nicht wie, welche Vorgaben es vom Verlag gab.
Haptisch und optisch passt das Buch zum Thema und ist wirklich schön gestaltet. Das Papier ist sehr dick und hochwertig, das Buch gebunden und mit einem schönen Farbschnitt versehen. Für mich ist es kein Buch, dass man in einem durch liest, sondern ein schöner Sammelband, denn man immer wieder zur Hand nehmen kann.
Zusammengefasst ist Ein bisserl schimpfen, ein bisserl räsonieren eine nette, unterhaltsame Sammlung von Leserbriefen, die eine kleine Zeitreise ermöglicht und interessante Fragen zur Zeit aufwirft, die aber leider im Buch nicht beantwortet werden. Ich kann das Buch dennoch empfehlen, vor allem für Geschichtsinteressierte.