Was es nicht so alles für Berufungen gibt. Trampen jedenfalls gehört dazu. Bislang hatte sich das mir noch nicht offenbart. Nun aber, nachdem ich dieses seltsame Buch gelesen habe, weiß ich es. Man kann immer wieder nur staunen, wie vielfältig und bekloppt das menschliche Panoptikum ist. Natürlich hält sich Stefan Korn nicht für einen Verrückten. Oder vielleicht doch? Wer will das schon außer ihm so genau wissen. Wenn ich ihn in seinem gelb-roten Overall an der Straße stehend gesehen hätte, wäre bei mir die Vermutung entstanden, DHL hätte sich einen neuen Kundenservice ausgedacht und würde mir mein ersehntes Paket bereits mitten im Verkehr zustellen wollen.
Dass dies so eine Art Uniform für Tramper ist – darauf wäre ich nie gekommen. Und das muss wohl auch anderen so gegangen sein. Der Typ jedenfalls fällt auf: diese Uniform, Bart und Brille. Und ein Riese ist er auch noch. So steht er dann irgendwo in der amerikanischen Pampa und will mitgenommen werden. Wenn andere bei ihm was holen wollen, bezeichnet er sie als Schnorrer. Ist es nicht immer wieder schön, zu beobachten, wie ich-zentriert manche Weltbilder sein können?
Um es kurz zu machen: Das ist keine Reisebeschreibung im üblichen Sinne, denn um die Reise geht es überhaupt nicht. Oder besser gesagt: Die Reiseziele sind Korn völlig wurscht. Ihm geht es nur darum, möglichst schnell möglichst viel Strecke zu machen. Das ist so eine Art egomanischer Wettbewerb in der Tramper-Szene. Man will sich ein Denkmal setzen, Eindruck schinden, einen Namen machen. Das liegt in der menschlichen Natur. Und wenn es im freien Wettbewerb nicht klappt, dann schafft man sich eine Nische, die kaum besiedelt ist. Da wird man schneller König.
In diesem speziellen Fall muss man sehr schmerzfrei sein, keine Angst haben, Dreck und fremde Leute mögen. Natürlich kann man das auch freundlicher ausdrücken: Man braucht die Liebe zum Risiko, ist auf der Suche nach neuen Freundschaften, liebt die Vielfalt, will viel herumkommen und verabscheut Geld.
Dieses Buch ist also nicht für den Normalbürger geschrieben, sondern für die Tramper-Szene. Man findet in ihm auch keine Beschreibung der Reise im üblichen Sinne, sondern lediglich eine detaillierte Schilderung mancher Lifts (Mitnahme-Gelegenheiten), wenn diese es wert sind, dargestellt zu werden. Natürlich hat Korn auch allerlei gefährliche Situationen erlebt. Alles andere wäre auch ein Wunder bei seiner Route. Manch ängstlicher Zeitgenosse wird sich fragen, wie er das überhaupt lebend beenden konnte. Eine mitfühlende Frau, auf die Korn während seiner Tour traf, konnte sich eine Bemerkung über seine arme Mutter nicht verkneifen. Wen wundert das?
Falls sich jemand für diese Tour interessiert, sie verlief so: Trampen von Leipzig bis Gibraltar. Dort fand er einen Segler, der ihn bis auf die Kanaren mitnahm. Anschließend auf dieselbe Weise bis in die Karibik. Von dort über Venezuela bis zur Südspitze Südamerikas. Dann zurück und über Chile, Bolivien und Peru nach Mittelamerika. Anschließend über Mexiko, die USA nach Kanada bis zur Nordspitze Nordamerikas. Mit dem Flieger nach Hongkong. Dann über China und Kasachstan zurück nach Europa. Das ganze dauerte fast zwei Jahre, alles mit einem 35-Liter-Rucksack und nur wenigen Klamotten.
Korn interessierte sich niemals für die Länder, die Leute oder sonst irgendetwas, sondern nur für seine Strecke: "… mir wurde auch klar, dass ich die Reise begonnen hatte, weil ich mir in der Trampercommunity einen Namen machen wollte. Und ich wollte unbedingt etwas Besonderes leisten. Es musste weh tun. Weil sonst kann es ja jeder. Im Wesentlichen wollte ich Anerkennung. Das finde ich nicht verwerflich, weil jeder Mensch Anerkennung verdient; auch wenn das Bedürfnis danach heute teilweise absurde Ausmaße annimmt."
Das steht auf den Seiten 201 und 202. Vielleicht kommt ein normaler Leser, der nicht zu dieser sonderbaren Szene gehört, gar nicht bis dahin, denn zunehmend wiederholt sich die Geschichte, und deshalb wird das Buch auch zunehmend langweiliger für Außenstehende. Immerhin aber verdeutlicht das obige Zitat doch eine recht allgemeine Wahrheit: Menschen, auch wenn sie noch so verrückt für andere agieren, besitzen immer ein gewisses Restpotential zur Selbsterkenntnis.
Die Fotos im Buch sind wenig aussagekräftig, klein und von grenzwertiger Qualität. Die Reiseroute in Form einer Karte fehlt selbstverständlich auch. Für Tramper ist das bestimmt ein Superbuch. Für andere eher weniger. Meine Bewertung sollte man deshalb eher als neutral auffassen.