Cover des Buches Neringa (ISBN: 9783866482456)
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Rezension zu Neringa von Stefan Moster

Vom Suchen nach der Identität

von serendipity3012 vor 8 Jahren

Rezension

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serendipity3012vor 8 Jahren
Vom Suchen nach der Identität

Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr da bin? Was ist mein Leben, meine Arbeit wert? Diese und ähnliche Fragen sind es, die der namenlose Protagonist in Stefan Mosters neuem Roman „Neringa“ sich stellt: Sicher nicht zufällig zu genau diesem Zeitpunkt, denn er feiert seinen 50. Geburtstag. Das heißt, er feiert ihn gerade nicht, er versucht vielmehr, ihn zu ignorieren, hat seinen Eltern verboten, ihm etwas zu schenken und es gibt weder eine Ehefrau oder Freundin noch Freunde, mit denen er den Tag verbringen würde. Er ist ein absoluter Einzelgänger.

Er arbeitet im IT-Bereich, lebt seit einiger Zeit in London, ist beruflich erfolgreich, fragt sich aber zunehmend, ob ihn diese Arbeit eigentlich ausfüllt. Was bedeutet sie ihm? Wie sieht es insgesamt mit seinem Leben aus? An diesem wichtigen Punkt, der vielleicht ein Wendepunkt werden wird, blickt er in zwei Richtungen: Da ist einmal die Erinnerung an seinen Großvater Jakob, der Pflasterer war, im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat und ein in jeder Hinsicht anderes Leben geführt zu haben scheint als sein Enkel viele Jahre später. Es sind einzelne Episoden aus Jakobs Leben, an die er sich nun erinnert. Und andererseits beginnt der Protagonist in der Gegenwart, sich für seine litauische Putzfrau zu interessieren, die einige Jahre jünger ist als er und die wie der Großvater, nur in der heutigen Zeit und anderer Hinsicht, ein komplett anderes Leben führt als er. Vor allem ist es ihre Einstellung, die sich von seiner unterscheidet.

Stefan Moster hat nach seinem letzten lesenwerten Roman „Die Frau des Botschafters“ eine Geschichte geschrieben, die ganz anders daherkommt, die vor allem viel mehr im Ungewissen lässt als es dort der Fall war. Mosters Protagonist erlaubt uns Lesern nur Einblicke in bestimmte Bereiche seines Lebens, in kleine Teile seiner Vergangenheit. Während sein Großvater von Anfang an einen Namen trägt, verrät er seinen eigenen nicht. Während der Großvater einem sehr greifbaren Beruf mit sichtbaren Resultaten nachgeht, bleibt seine eigene Tätigkeit zumindest für denjenigen Leser, der sich im IT-Bereich nicht auskennt, ein wenig diffus. Wir erfahren von psychischen Problemen, auch von Symptomen, einer Therapie des Protagonisten in jüngeren Jahren, aber auch hier: So richtig konkret wird er nicht. Doch, und das ist eine der Stärken des Romans, trotzdem erfährt der Leser alles, was wichtig ist. Der Protagonist ist deutlich gezeichnet, man kann ihn quasi erfühlen, so plastisch erweckt Moster ihn zum Leben. Und die Leerstellen, die die Geschichte lässt, kann der Leser mit Leben füllen: Hier ist die Frage mal wieder nicht, was der Autor mit seinem Roman sagen wollte – wenn überhaupt, dann muss sie lauten: Was ziehe ich für mich aus dieser Geschichte heraus? Was wollte der Autor mir sagen? Oder vielleicht noch anders: Was will ich, das der Autor mir sagen möchte? So gibt es Passagen, die man als konkrete Andeutungen verstehen kann, aber nicht muss. Der Roman wirft Fragen auf, für die beim Lesen gar keine Antwort nötig ist.

Die Frage des Protagonisten nach dem Sinn seines Berufs und insgesamt seines Lebens wird so einerseits vor dem Hintergrund des Berufs und des Lebens des Großvaters gestellt. Fast ist er ein bisschen neidisch, dass dieser als Pflasterer etwas Bleibendes hinterlassen hat, während die Früchte seiner eigenen Arbeit doch eher abstrakt sind. Der Großvater hatte seinerzeit weniger Möglichkeiten als es heute der Fall ist – aber sind diese Möglichkeiten wirklich nur Segen, oder auch Fluch? Immer ist da schließlich heutzutage die Frage, ob man sich wirklich für die beste Variante entschieden hat, etwas Besseres verpasst. Und auf der anderen Seite ist es die Putzfrau Neringa, die ihm zeigt, dass Arbeit etwas anderes als Selbstverwirklichung sein kann. Sie sieht die Notwendigkeit gar nicht, sich mit ihrer Arbeit zu identifizieren, sie putzt, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.

Diese Beziehung zu Neringa, die dem Protagonisten auf seine komplizierten Fragen oftmals einfache Antworten gibt (auch auf jene, die dieser ihr gar nicht stellt), ist das Einzige, das ich in Mosters Roman als nicht ganz geglückt empfinde: Ein einzelgängerischer, aber finanziell gut stehender Mann beginnt, sich für eine jüngere Migrantin zu interessieren, die für ihn arbeitet – das erschien mir alles andere als neu und originell. Glücklicherweise sind auch diese Passagen nicht misslungen, Neringa ist ein glaubhafter Charakter – trotzdem hätte ich eine andere Konstellation hier interessanter gefunden.

Insgesamt ist Moster ein Roman gelungen, der durch seine klare, punktgenaue, aber nie simple Sprache stets genussvoll zu lesen ist. Ein Roman, der große Fragen stellt, dem Leser Spielraum lässt. Stefan Moster ist hier wieder wie in seinem letzten Roman ein Meister der leichten Melancholie. Ein lesenswerter Roman.



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