Mary Shelleys (1797 – 1851) Schauerroman „Frankenstein“ wurde weltberühmt und mehrfach verfilmt. Shelleys Roman „Mathilda“ dagegen blieb lange unveröffentlicht und galt schließlich als verschollen. Der Pendragon Verlag legt ihn nun in deutscher Übersetzung vor.
Der kurze Roman hat die Form eines Abschiedsbriefes, den die todkranke junge Mathilda an ihren Freund Woodville schreibt. In diesem Brief erzählt sie ihr Leben und legt den Grund für ihr nicht endendes seelisches Leiden dar. Die Themen, die der Brief anschlägt, sind alle typisch für eine Zeit, die In Deutschland als „Romantik“ kategorisiert wird. Es geht um Freundschaft, um Einsamkeit, um unerfüllte Liebe, um Tod und schwärmerische Todessehnsucht, um seelische Zerrissenheit, Träume, um Verlust, Sehnsucht und Einsamkeit. Auch die Rolle der Natur entspricht dem Empfinden der Zeit: auch Mathilda sieht die Natur als einen Rückzugsort, der die Verirrungen durch die Zivilisation heilen kann und mit der sie sich daher aufs Innigste verbinden möchte. Shelley ergänzt dieses Arsenal um typische Elemente der englischen Schauerromantik wie düstere Gewitterszenen, schaurige Träume von Tod und Untergang und Wahnsinn.
Vor allem aber geht es um die dunklen Abgründe des Innenlebens. Im Mittelpunkt steht Mathildas ambivalente Beziehung zu ihrem Vater. Ihre Beziehung zu ihrem schwärmerisch geliebten Vater nimmt inzestuöse Züge an, was sie in eine tiefe Depression fallen lässt. Es gelingt ihr nicht, sich aus dieser kranken Beziehung zu retten und dem Leben und der Welt zuzuwenden, sodass sie ihrem Tod freudig entgegensieht.
Die psychologische Tiefe des Romans ist noch heute beachtlich. Ebenso beachtlich ist die Sprachmächtigkeit dieser jungen Autorin, wenn sie Mathilda in unglaublicher Intensität ihren seelischen Zustand beschreiben lässt. Hier kommt es zwar zu Längen, aber die Empfindsamkeit und Ausführlichkeit der Beschreibung entsprach wohl den Erwartungen der Zeit. Mathildas Gedanken kreisen ausschließlich um ihre Befindlichkeiten, und damit entspricht sie der Philosophie des Individualismus. Mary Shelley stellt dem aber eine andere Lebensauffassung in Mathildas Freund Woodville entgegen: er sieht seinen Lebenssinn in der Zuwendung und der Fürsorge für andere Mitmenschen.
Insgesamt ein interessanter Blick in die Literaturgeschichte und eine lohnende Lese-Erfahrung!