Stefan Weidner

 4,3 Sterne bei 7 Bewertungen
Autor*in von Jenseits des Westens, Ground Zero und weiteren Büchern.

Lebenslauf

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, studierte Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn. 2001–2016 Chefredakteur der Kulturzeitschrift Art & Thought/Fikrun wa Fann. Für seine Arbeit hat er u. a. den Clemens-Brentano-Preis, den Johann-Heinrich-Voß-Preis und den Sheikh Hamad Award for Translation and International Understanding erhalten. Stefan Weidner lebt in Köln. Bei Hanser erschienen 2018 »Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken« und 2021 »Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart«.

Quelle: Verlag / vlb

Alle Bücher von Stefan Weidner

Cover des Buches Jenseits des Westens (ISBN: 9783446258495)

Jenseits des Westens

(3)
Erschienen am 12.03.2018
Cover des Buches Ground Zero (ISBN: 9783446269330)

Ground Zero

(1)
Erschienen am 25.01.2021
Cover des Buches 1001 Buch. Die Literaturen des Orients (ISBN: 9783949558092)

1001 Buch. Die Literaturen des Orients

(0)
Erschienen am 07.06.2022
Cover des Buches Allah heißt Gott (ISBN: 9783596806607)

Allah heißt Gott

(0)
Erschienen am 01.10.2008
Cover des Buches Der arabische Diwan (ISBN: 9783847704720)

Der arabische Diwan

(0)
Erschienen am 09.12.2024
Cover des Buches Mohammedanische Versuchungen (ISBN: 9783518459829)

Mohammedanische Versuchungen

(0)
Erschienen am 22.06.2008

Neue Rezensionen zu Stefan Weidner

Cover des Buches Jenseits des Westens (ISBN: 9783446258495)
Georg333s avatar

Rezension zu "Jenseits des Westens" von Stefan Weidner

Georg333
8 S. Lit., 7 S. P-Verzeichnis, 37 S. Anmerkungen! Intellektuell verkopfter politisierender, scheinphiloSOPHischer (Jakob Lorber, Bertha Dudde) Islamwissenschaftler & Asien-/Nahost-Kulturvermittler ignoriert oder mißversteht das (neue?) kosmopolitische Denken & Agieren des Westens (Daniele Ganser, Thomas Röper, F. William Engdahl): Nuklearwaffen-basierte Osterweiterung (Mathias Bröckers) der extrem "terroristischen USA" (Noam Chomsky, Alexander Dugin) & NATO bis zum Chinesischen Meer (im Würgegriff: RU, CN...): PROPHEZEITE Folge: 3. Weltkrieg (m.E. 2026: j-lorber.de! Gerd Gutemann!), der auf seinem Höhepunkt durch Kometenkollision (!) zwangsbeendet wird, hoffentlich vor massivem Nuklarwaffeneinsatz: Kurt Eggenstein, M Kahir, Walter Lutz, Franz Deml!

Prolog: a1) "Dazu haben es die USA, sekundiert von den Briten, geschafft, die deutsche politische Szene so zu unterwandern, dass die deutsche Politik zu großen Teilen nur noch eine Funktion der [US-]amerikanischen sei, auf Konfrontation bis hin zum Krieg gegen Russland ausgerichtet...

a2) Doch schon der von den USA betriebene völkerrechtswidrige Krieg der Nato gegen Jugoslawien/Serbien von 1999 bewies das Gegenteil. Ein Jahr danach, auf einer Konferenz in Bratislava (Preßburg) des US-Außenministeriums mit höchst- und hochrangigen Vertretern europäischer Staaten und der Nato [siehe Bericht des MdB Wimmer unter „Bratislava-Konferenz“ in Wikipedia, d. Rez.] [https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Bratislava,_2000 ] machten die USA eindeutig klar, dass ihr Herrschaftsanspruch vom Völkerrecht nicht behindert werden dürfe, und Europa westlich der Linie Riga – Odessa – Djabakir ihrer Hegemonie unterstehe....

a3) Willy Wimmer, der sich um die Zukunft Deutschlands sorgt, sieht offenbar aus seiner profunden Erfahrung in der Außen- und Sicherheitspolitik, eine zwingende Notwendigkeit, Tabus zu brechen, um ein tatsachengerechtes Bild der Geschichte ab..

a4) "...Das Diktat des Hasses habe aber zwangsläufig zum Zweiten Weltkrieg, geführt, vielleicht auch ohne Adolf Hitler. Dieser, von US-Finanziers gefördert, sei Mittel zu dem großen amerikanischen Ziel gewesen, Sowjetrussland zu vernichten...Deutsche Friedensversuche hatten keine Chance, denn in der „gesamten Kriegsplanung der Westalliierten [...] ging es um die Vernichtung eines eigenständig operierenden deutschen Staates.“ Durch den „mörderischen Angriff auf die Stadt Dresden“ sollte für „die Nachwelt“ sogar „das Bild einer klassischen deutschen Stadt“ ausgelöscht werden."  

a1-a4) Rezension von Manfred Backerra, bachheimer.com, zu "Und immer wieder Versailles" von Alexander Sosnowski & Willy Wimmer  
https://www.lovelybooks.de/autor/Alexander-Sosnowski/Und-immer-wieder-Versailles-2039206873-w/

c) Bericht des Bundestagsabgeordneten Willy Wimmer ( https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Bratislava,_2000 ):
...3. Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die [US-]amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter.

4. Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem Zweiten Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.

...7. Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wiederherzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei.

8. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.

9. Nördlich von Polen gelte es, die vollständige Kontrolle über den Zugang aus St. Petersburg zur Ostsee zu erhalten.

...internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht solle Recht vorgehen.
Wo internationales Recht im Wege stehe, werde es beseitigt.

...Laut Donaukurier äußerte Willy Wimmer 2016 bei einer Einladung der "Freunde von Valjevo", er warne davor, gegenüber den USA die eigenen Interessen als Nation nicht wahrzunehmen und sich wie die Kanzlerin amerikanischen Vorgaben völlig unterzuordnen... "


1) Fazit
a) 8 S. Literaturliste, 7 S. Personen-Verzeichnis, 37 S. Anmerkungen! 

b1) Intellektuell verkopfter politisierender, scheinphiloSOPHischer (Jakob Lorber, Bertha Dudde) Islamwissenschaftler & Asien-/Nahost-Kulturvermittler ignoriert oder mißversteht das (neue?) kosmopolitische Denken & Agieren des Westens (Daniele Ganser, Thomas Röper, William F. Engdahl):
b2) Nuklearwaffen-basierte Osterweiterung (Mathias Bröckers) der extrem "terroristischen USA" (Noam Chomsky, Alexander Dugin) & NATO bis zum Chinesischen Meer (im Würgegriff: RU, CN...):
b3) PROPHEZEITE Folge: Dritter Weltkrieg (m.E. 2026: j-lorber.de! Gerd Gutemann!), der auf seinem Höhepunkt durch Kometenkollision  (!) zwangsbeendet wird, hoffentlich vor massivem Nuklarwaffeneinsatz:
b4) j-lorber.de! Gerd Gutemann! M Kahir (Viktor Mohr), Kurt Eggenstein, Walter Lutz, Franz Deml!

2) Hilfreiches
a) 37 S. Leseprobe mit IHV https://files.hanser.de/Files/Article/ARTK_LPR_9783446258495_0001.pdf

b) Top-Autoren (Bücher):
Themen: NWO (Neue Weltordnung), Endzeit, Entartung, USA-Hegemonie, Unipolare & Multipolare Weltordnung, NATO+Osterweiterung, (Militär- & Außen-)Politik, (Dritter) Weltkrieg, Atomwaffen, Agression, Soziologie, Ukraine-Krieg, (Negativ-)Konformismus:
Mathias Bröckers, Daniele Ganser, Alfred McCoy, Peter S. Goodman, Daniel Immerwahr, Jan van Helsing, Wolfgang Bittner, Marcus Klöckner, Thorsten Schulte, Michel Chossudovsky, Peter Orzechowski, Thomas Röper, Michael Morris, Alex Demirovic, Collin McMahon, Noam Chomsky, Ullrich Mies, Rainer Mausfeld, Frank Böckelmann, Jens Wernicke, Wolfgang Gehrcke, Michael Lüders, Jaroslav Langer, Bernd Hamm, Jonas Tögel, Benjamnin Abelow, Andreas Bülow, Raul Zelik, Ulrike Guerot, Harald Dasinger, Christian Hardinghaus, Michael Nehls, Gerhard Wisnewski, Herman Kahn (USA-Geopolitik mit Atomwaffen), Neil Sheehan, Andreas Zumach, William F. Engdahl, Alexander Dugin, Willy Wimmer

c) Siehe unten: Zitate aus dem Rezensionsbuch, über den Autor, Werbetexte, Rezensionen

3) Rezensionen
a) https://www.perlentaucher.de/buch/stefan-weidner/jenseits-des-westens.html
a1) "Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 25.08.2018
Thomas Speckmann lernt mit dem Buch des Kölner Islamwissenschaftlers Stefan Weidner, wie es an den "Denkorten" dieser Welt zugeht. Weidners Suche nach einem "neuen kosmopolitischen Denken" scheint Speckmann zwar nicht so konkret wie die vom Autor dargestellten "Weltentwürfe bisheriger Prägung", für den Rezensenten besteht die Bedeutung des Essays jedoch darin, den Autor auf seinen Reisen begleiten zu können. Dass der Autor den Westen nicht per se abschreibt, sondern nur seine kulturelle Überlegenheit in Frage stellt und stattdessen unterschiedliche Narrative über die Welt ernstzunehmen sucht, findet Speckmann richtig.
Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.05.2018

a2) Alex Rühle lässt sich nicht nur zu weiterer Lektüre anstiften von Stefan Weidner. Weidners Versuch, den universalistischen, kosmopolitischen, dabei ab- bzw. ausgrenzenden Anspruch des Westens zu dekonstruieren, indem er die Geschichte der Moderne als Entfremdungserfahrung erzählt, scheint Rühle insgesamt anzuregen. Dass der Autor kein Philosoph, sondern Kulturvermittler ist, hindert ihn laut Rühle allerdings daran, erklären zu können, wie der Mensch in ein spirituell-religiöses Grundempfinden als explizite Alternative zu einem überholten kosmopolitischen Denken zurückfinden soll. Die Anschlüsse, die der Autor unterwegs findet, zu Hannah Arendt etwa, findet Rühle jedenfalls spannend. Und als synkretische Zusammenschau alternativer Vorschläge findet er das Buch allemal sehr unterhaltsam. Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.03.2018

a3) Rezensent Mark Siemons bescheinigt dem Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer Stefan Weidner nach der Lektüre seines Plädoyers "Für ein neues kosmopolitisches Denken" einen scharfen analytischen Blick: Weidner arbeite heraus, dass das Narrativ des Westens gerade dann zur Ideologie gerate, wo es seinen Anspruch, zwischen Menschen und Kulturen keine Unterschiede zu machen, als Alleinstellungsmerkmal ausgibt. Darum spricht Weidner sich nach Siemons dafür aus, kulturelle Narrative zwar nicht zu revidieren, aber sie zu überschreiten, ihren Hegemonialanspruch zu überwinden. Wie der so entstehende neue Kosmopolitismus dann allerdings konkret politisch umgesetzt werden solle, scheint Siemons Weidners "assoziativ-mäandernder" Argumentation nicht entnehmen zu können. Das unsystematische Vorgehen des Autors komme dennoch eindeutig seiner Reflexionstiefe zugute, versichert Siemons."
https://www.perlentaucher.de/buch/stefan-weidner/jenseits-des-westens.html

4) Werbetexte Verlag & Anbieter
a) "Die Zeit der westlichen Überlegenheit ist vorbei – Stefan Weidners scharfsinniges Plädoyer für ein neues kosmopolitisches Denken. Wir waren es gewohnt, dass Europa und Nordamerika die Welt dominieren. In Zeiten der Globalisierung melden nun andere Großmächte politische und wirtschaftliche Ansprüche an und stellen die „westlicheWeltdeutung in Frage. Fortschritt, Säkularisierung, Liberalismus: Warum sollten diese Prinzipien unserer Ideengeschichte für den ganzen Globus gelten? Stefan Weidner ist ein Anhänger der Aufklärung. Gerade deshalb plädiert er dafür, Weltentwürfe aus Arabien, Afrika oder China ernst zu nehmen. Der „Westen“ darf nicht glauben, die ganze Welt werde früher oder später seine Vorstellungen übernehmen. Wir brauchen ein kosmopolitisches Denken, das die Vorstellung kultureller Überlegenheit überwindet."

5) Über den Autor
"STEFAN WEIDNER, Jahrgang 1967, reiste als Schüler auf eigene Faust nach Nordafrika. Später studierte er Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn und begann seine Karriere als Übersetzer arabischer Lyrik und als
Literaturkritiker. 2001–2016 Chefredakteur der vom Goethe-Institut auf Englisch, Arabisch und Persisch herausgegebenen Kulturzeitschrift Art&Thought /Fikrun wa Fann. Für seine Arbeit hat er u. a. den Clemens-Brentano-Preis, den Johann-Heinrich-Voss-Preis und den Paul-Scheerbart-Preis erhalten. Stefan Weidner lebt in Köln."

6) Zitate aus dem Rezensionsbuch
"Die Ideologie des Westens
Statt Gott nachzueifern, eifert man den Tieren nach. […] Der Humanismus erweist sich als ungenügend. Da der Mensch sich nur im Licht des großen Ganzen und dessen nicht-menschlichen Ursprungs verstehen kann und da er das Wesen ist, das die Menschheit überschreiten muss, ist er gezwungen, die Menschheit zum Untermenschen hin zu überschreiten, wenn er sie nicht zum Übermenschen hin überschreitet. Tertium, d.h. Humanismus, non datur.1 Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli

Als ich Anfang der neunziger Jahre von meinem einjährigen Studienaufenthalt in Damaskus nach Deutschland
zurückkehrte und mit meinen arabischen Freunden begann, ihre Gedichte zu übersetzen, wurden in den amerikanischen
Denkfabriken die Weichen neu gestellt. Die Aufgabe, vor die sich diese Thinktanks, aber auch viele europäische Intellektuelle gestellt sahen, hatte sich aus dem überraschenden Erfolg ihrer Weltanschauung ergeben. Der Kalte Krieg war unversehens in ihrem Sinn entschieden.
Aber was bedeutete die neue Situation, welche Politik folgte daraus?

Einer der frühsten und bekanntesten Versuche der Neuorientierung stammt von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (geb. 1952), der für die konservative Denkfabrik RAND Corporation und die US-Regierung tätig war und später in Washington an der Universität lehrte. Noch ehe die Berliner Mauer gefallen war, publizierte er im Sommer 1989 in der Zeitschrift The
National Interest 2 einen Aufsatz, der mit einer spektakulären These aufwartet:
Die Geschichte ist an ihr Ende gelangt – wiewohl es weiterhin politische Ereignisse geben wird. Die durch den absehbaren Zusammenbruch des Ostblocks symbolisierte weltanschauliche Klärung, gleichzusetzen mit dem »Triumph des Westens, der westlichen Idee«, bedeute »den Endpunkt der ideologischen Evolution des Menschen und die Universalisierung der liberalen Demokratie des Westens als der endgültigen Gestalt menschlicher Regierung«.
Freilich vollzieht sich das Ende der Geschichte vorerst nur in der Vorstellung: »Der Sieg des Liberalismus hat sich vorrangig auf dem Gebiet
der Ideen und des Bewusstseins ereignet. In der materiellen Welt ist er noch unvollständig.«

....Dass es sich beim Liberalismus des Westens um eine Ideologie handelt, sagt Fukuyama in seinem Aufsatz unverhohlen selbst: Die »liberale Demokratie des Westens« markiere »den Endpunkt der ideologischen Evolution des Menschen«. Die ideologische Entwicklung als Evolution zu bezeichnen ist ein erster, wichtiger Schritt hin zur Abkehr vom Gedanken, dass es sich dabei um eine Ideologie
handelt. Evolution bezeichnet eine Entwicklung von Natur
aus, keine vom Menschen betriebene. Die Ideologie des
Westens wird (im Gegensatz zu den anderen, von der
Evolution ausgeschiedenen) als die naturgemäße
bezeichnet, ihr Charakter als Ideologie in genau dem
Moment verschleiert, in dem sie als Ideologie ein letztes
Mal, nämlich als »end point«, erscheint.
In Fukuyamas drei Jahre nach dem Aufsatz erschienenen
Buch »The End of History And the Last Man«5 wird die These vom Ende der Geschichte, die viele Beobachter befremdlich fanden, geschichtsphilosophisch näher begründet. Mit Verweis auf Platon, Hegel und Nietzsche konstatiert Fukuyama, dass unsere politische Ordnung deshalb den Sieg über andere davongetragen hat, weil das ihr zugrunde liegende Menschenbild der menschlichen Natur am besten entspreche. In der biologistischen Metapher der »ideologischen Evolution« klang der Anspruch, der Natur zu genügen, bereits an. Als ein
Weltbild, dessen Realismus und evolutionäre Überlegenheit durch den Berliner Mauerfall symbolisch bestätigt wurde, ist der Liberalismus keine Ideologie wie alle anderen. Er ist vielmehr diejenige, die als einzige die Crashtests der Geschichte bestanden hat.
Mit der Verknüpfung von Liberalismus und (ideologischer) Evolution schreibt sich Fukuyama in ein populäres Narrativ ein, das in der Vorstellung besteht, die Geschichte laufe auf ein Ziel zu und sei die Bühne beziehungsweise der Ort, wo die Wahrheit als Wahrheit
erscheint. Er beruft sich dabei auf die Geschichtsphilosophie Hegels, der solche Vorstellungen
entscheidend geprägt hat.6 Sein Verständnis von Hegel ist aber vom russisch-französischen Hegel-Interpreten
Alexandre Kojève geprägt, der zwischen 1933 und 1939 an
der Pariser École des Hautes Études vielbesuchte,
ausgesprochen einflussreiche Vorlesungen über Hegel hielt,
die nach dem Krieg zu einem Buch zusammengestellt
wurden.7 

Kojève (1902–1968) ist eine Schlüsselgestalt für viele prominente ideologische Positionen des 20. Jahrhunderts,
oft für sich widersprechende. Sein Leben und seine Überzeugungen geben nach wie vor Rätsel auf.8 Sicher ist: Ohne Kojèves Neulektüre Hegels, welche die alten Hegel Deutungen sei es von konservativer, sei es von marxistischer Seite überwindet, ist die weltanschauliche
Ausdifferenzierung und Vielfalt der heute im Westen kursierenden philosophischen Positionen kaum verständlich. Kojèves Wirkung gleicht einer ideologischen Brandbeschleunigung, die alle erfasst hat, die mit ihm in Berührung gekommen sind.
Interessanterweise finden wir bei Kojève noch Positionen vereint, die nach dem Zweiten Weltkrieg unvereinbar und unversöhnlich wurden, ja scheinbar nie zusammenhingen: autoritäre Staatsvorstellungen, neoliberales und antiliberales Denken, aber auch Vorausdeutungen auf
poststrukturalistische und postmoderne Haltungen. Jede dieser Strömungen lässt sich in ihrer gegenwärtigen Ausprägung zumindest teilweise auf Kojève und seine vor allem in Frankreich und den USA einflussreiche Hegel-Deutung zurückführen.
Sartre, Levinas, Derrida, Foucault, Lacan, Bataille, Merleau-Ponty, Raymond Aron, aber auch Hannah Arendt, Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith, Leo Strauss, Allan Bloom, Carl Schmitt – alle diese Denker, so unterschiedlich sie waren, sind auf die ein oder andere
Weise Hörer, Leser und Gesprächspartner von Kojève gewesen, der selbst bei Karl Jaspers und vielleicht auch kurz bei Husserl studiert hatte.9 

Mit Hilfe von Kojève kann man vordergründig so abwegige Gedankenlinien ziehen wie von Jacques Lacan zu Francis Fukuyama oder von Carl
Schmitt zu Jacques Derrida. Oder vom Russland der Revolution über die Goldenen Zwanziger in Deutschland zur Vorkriegszeit nach Frankreich und zu den amerikanischen Elite-Universitäten und in höchste Regierungskreise der USA bis in die neunziger Jahre. Oder über ein paar Ecken mehr von Jean-Paul Sartre zu Donald Trump.10 Als würde das nicht genügen, schreibt man Kojève, der im
französischen Wirtschaftsministerium für die europäische Integration verantwortlich war, beträchtlichen Einfluss auf die frühe europäische Einigung zu und hegt den begründeten Verdacht, er habe parallel für den KGB spioniert. Überdies hatte er ein Faible für den Buddhismus und lernte einige asiatische Sprachen: Sanskrit, Chinesisch und Tibetisch. 

Wassily Kandinsky, der Theosoph unter den modernen Malern, war sein Onkel, und seine Promotion bei Jaspers handelte von einem russischen Religionsphilosophen und modernen orthodoxen Mystiker. Wie wir am Ende dieses Buches sehen werden, weisen die
Ideen bedeutender Vertreter der indischen Unabhängigkeitsbewegung eine ähnliche geistige Genealogie auf. Kojève, auf den sich die Ideologie des Westens beruft, war in vielerlei Hinsicht immer schon jenseits des Westens.

Inwiefern stützt sich Fukuyama auf Kojève und dessen Hegel-Deutung? Ausgehend von einem Kapitel in Platons »Staat«11 und zunächst unabhängig von Hegel schreibt Fukuyama dem Menschen drei wesentliche Eigenschaften zu:
Vernunft (logos),
Begierde (epithymia) und schließlich, als geheimnisvollste und für Fukuyama wichtigste der drei Eigenschaften,
thymos, Fukuyama zufolge das Streben nach Ehre und Anerkennung.12 

Den liberalen, kapitalistischen Demokratien des Westens sei es am besten gelungen, Vernunft und Begehren zu vereinbaren: Die Bedürfnisse werden hier auf vernünftige Weise erfüllt, anders als im Sozialismus, wo die Bedürfnisbefriedigung, wenn überhaupt, nur um den Preis harter politischer Zwangsmaßnahmen möglich war. Wichtiger aber noch sei, dass es dem Kapitalismus anders als dem Sozialismus,
welcher die Gleichheit der Menschen betont13, gelinge, den Thymos zu befriedigen. Er ist diejenige Kraft, die nach Anerkennung strebt, also eine Art Ehrgeiz, der Wunsch, sich vor den anderen auszuzeichnen, ja ihnen überlegen zu
sein. Thymos sieht Fukuyama auch in Gestalt von Nietzsches »Wille zur Macht« sowie in seinen Vorstellungen
vom »Übermenschen« am Werk. Dieses Thymos-Prinzip findet Fukuyama nicht nur bei Platon und Nietzsche wieder, sondern identifiziert es mit dem Kampf zwischen Herr und Knecht, der bei Hegel, besonders aber in der Hegel-Deutung von Kojève thematisiert wird. Dieser Kampf, nach Hegel/Kojève die Urszene der Weltgeschichte und ihre treibende Kraft, stellt einen Kampf um Anerkennung auf Leben und Tod dar. Wer
ihn gewinnt, ist der Herr; der Verlierer wird zu seinem Knecht. Die Pointe besteht darin, dass der Herr zugleich vom Knecht abhängt, weil dieser es ist, der ihm die Anerkennung verschafft; andererseits ist die Anerkennung, die der Knecht als Knecht zollt, ungenügend, weil sie nicht der Anerkennung gleichkommt, die man von einem Gleichrangigen erhält. Deshalb hört die Geschichte mit dem Sieg des einen über den anderen nicht auf, sondern endet erst mit der im Lauf der Geschichte errungenen Freiheit des Knechts, also der wechselseitigen Anerkennung der einstigen Antagonisten als Gleiche.
Mit dieser auf einige Schlagworte reduzierten Theorie von Hegel/Kojève lassen sich sowohl das Wettbewerbsprinzip des Kapitalismus als auch die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, die die liberalen Demokratien des Westens prägen, geschichtsphilosophisch rechtfertigen.14 Überdies hat sie den Charme, in Gestalt der dialektischen Geschichtsdeutung ein wichtiges Element sozialistischer Weltanschauungen, den »dialektischen Materialismus«, gegen den Sozialismus selbst zu wenden.
Fukuyama erweitert nun die Theorie von Hegel/Kojève,
indem er den Kampf um Anerkennung zwischen Herr und
Knecht mit Platons Thymos-Trieb erklärt. Das Ende der
Geschichte im Sinn des Kampfes zwischen Herr und Knecht
hätte daher zumindest die eine bedauerliche Folge, dass der
Thymos brachliegt beziehungsweise darauf verwiesen ist,
sich in mehr oder weniger bürgerlichen Kategorien zu
verwirklichen, solchen also, die die liberale Gesellschaft
fördert und duldet: der unternehmerische Kapitalismus, ein
mehr oder weniger extremes Hobby und vielleicht noch die
politischen Ämter. Der Autor nennt als Beispiele die Namen
von George Bush dem Älteren (zur Zeit des Erscheinens von
Fukuyamas Buch 41. US-Präsident), er nennt den
Extrembergsteiger Reinhold Messner und als Beispiel für
einen Unternehmer keinen Geringeren als den späteren
45. Präsidenten der USA, Donald Trump.
Fukuyamas Pointe besteht in der These, dass zumindest
Nietzsche, wenn nicht schon Platon, eine edlere Vorstellung
vom Übermenschen und von der Verwirklichung des
Thymos gehabt hat als die in der liberalen Demokratie
erlaubten, bürgerlich gezügelten Formen der Thymos-
Befriedigung. Es lohnt sich, die Stelle im Zusammenhang zu
zitieren: »Gibt es nicht einen Vorrat an Idealismus, der
unausgeschöpft bleibt, […] wenn man ein Geschäftsmann
wie Donald Trump, ein Bergsteiger wie Reinhold Messner,
ein Politiker wie George Bush wird? […] Bei aller
Anerkennung, die sie erhalten, ist ihr Leben nicht gerade
das schwierigste, sind die Anliegen, denen sie sich
verschrieben haben, nicht die nötigsten und die
gerechtesten. […] Einen wahrhaft thymotisch veranlagten
Charakter werden sie am Ende nicht zufriedenstellen
können.«15 Die größte Bedrohung für die liberalen
Demokratien nach dem Ende der Geschichte sieht
Fukuyama also darin, dass die Thymos-
Befriedigungsmöglichkeiten, die diese Gesellschaften im
Rahmen ihrer Gesetze bereithalten, nicht ausreichen und
dass der unbefriedigte Überschuss an Thymos die
Gesellschaft destabilisieren könnte – weswegen Fukuyama
dafür plädiert, Ungleichheit zuzulassen: »Während der am
häufigsten vorgebrachte Vorwurf gegen die liberale
Demokratie lautet, dass gleiche Menschen ungleich
behandelt werden, darf man die begründete Vermutung
hegen, dass die größere, letztlich viel ernstere Gefahr von
rechts ausgeht, nämlich von der Tendenz der liberalen
Demokratie, ungleiche Menschen gleich zu behandeln.«16
Ohne Fukuyamas These, dass zu viel Gleichheit die Ursache
des Problems der liberalen Demokratie sei, teilen zu wollen,
muss, von heute aus betrachtet, doch die Richtigkeit der
Schlussfolgerungen verblüffen: »The more serious threat
comes from the Right.«17 Indem Fukuyama die Bedrohung
von rechts dadurch erklärt, dass die liberale Demokratie zu
viel Gleichheit schafft, instrumentalisiert er die Rechte,
baut mit ihrer Hilfe eine Drohkulisse auf und bringt sie, sei
es nun absichtlich oder nicht, für sein eigenes Anliegen in
Stellung, dem Thymos mehr Spielräume zuzugestehen.

Kapitel "Ankünfte jenseits des Westens 
Ein samnyasin befindet sich zwar in der Welt, aber er ist nicht von der Welt.1 Gandhi
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird die europäische Beschäftigung mit anderen Kulturen auf einmal um ein entscheidendes Element bereichert: um die Antwort dieses anderen selbst. Wie wir am Beispiel von Renan und alAfghani gesehen haben, vollzieht sich dieser Dialog im Rahmen einer europäischen Wissensordnung, in einem bereits durch die Sprache – und damit das Publikum – vorgegebenen, europäischen Kontext. Europäisch-nichteuropäische Debatten finden nicht auf Arabisch, Hindi, Türkisch, Chinesisch, Japanisch statt, sondern auf Französisch, Englisch und vereinzelt in anderen westlichen Sprachen.

Man stelle sich vor, China hätte Europa kolonialisiert, und
um sich Gehör zu verschaffen, müssten die Europäer ihre
Argumente auf Chinesisch vorbringen. Man erinnere sich
an das, was bei der Übernahme des Buddhismus in China geschah, und ahnt, was alles verlorengehen muss, was man
verlorengeben muss, um gehört, erhört zu werden. Die Stimmen der europäischen Intellektuellen wären immer
schon auf chinesische Verhältnisse zugeschnitten. In einem zweiten Schritt würden die europäischen Ausdrucksweisen
auch in ihrem ursprünglichen europäischen Kontext sinisiert. Wir würden zum Beispiel zunehmend der
chinesischen Syntax folgen, immer mehr chinesische Wörter
in unsere Sprache einbauen und gleichsam chinesisch
denken, selbst wenn wir vordergründig auf Deutsch oder
Englisch schreiben. Wir würden anfangen, chinesische
Werte zu verkünden, um zu den Chinesen aufzuholen, wir
würden chinesische Gesellschaftsmodelle übernehmen, die
chinesische Kleidung, die literarischen Gattungen Chinas,
chinesische Essgewohnheiten und so weiter. Während die
Chinesen von uns fordern, dass wir uns ihnen anpassen und
»zivilisatorisch« zu ihnen aufholen, und wir uns nach
bestem Willen bemühen, sagen sie uns doch stets: Ihr seid
noch nicht chinesisch, zivilisiert, säkularisiert, modern
genug! Ihr seid zurückgeblieben, eben europäisch! Zwar
lernen die Chinesen das ein oder andere Gericht aus den
europäischen Küchen schätzen und versuchen gelegentlich,
einen unserer Dichter zu übersetzen, aber ihre
Wertschätzung für unsere Kultur bleibt abgehoben und
abstrakt. Kaum ein Chinese macht sich die Mühe, unsere
Sprachen zu lernen (warum auch, wenn doch bei uns jeder
Chinesisch lernt!), wir aber müssen chinesische Zeichen
nutzen, um auch nur Kurznachrichten unter uns
auszutauschen oder im Internet zu surfen. Ungefähr dies ist
der Zustand, in dem sich die nichtwestliche Welt seit rund
zwei Jahrhunderten mit Bezug auf den Westen befindet, und
so betrachtet ist der westliche Kosmopolitismus selten mehr
als ein sich interessiert gebender westlicher
Universalismus, eine freundliche Maskerade, zuweilen bloß
eine Art Karneval, wo man sich für kurze Zeit als anderer
verkleidet.2
Vor dem Hintergrund dieser totalen westlichen
     Hegemonie 
mag es verwundern, dass es überhaupt zu einer
Verschiebung der Situation kommen konnte. Die im letzten
Kapitel behandelten Unterströmungen der europäischen
Moderne, die (Früh-)Romantik, die Gegenaufklärung und
die von Herder bis Benjamin nachweisbaren eschatologisch-
kosmopolitischen Sprachtheorien haben daran einen
beträchtlichen Anteil. Die zunehmende Kenntnis
außereuropäischer Kulturen, welche sich einerseits der
philologischen Neugier, andererseits den Erfordernissen
des Kolonialismus verdankte, traf auf das Phänomen, dass
viele außereuropäische Intellektuelle die europäische
Kultur inzwischen ausreichend kannten, ihre Sprachen und
Diskursweisen beherrschten und gut genug auf der
Klaviatur europäischer Bedürfnisse spielten, um Gehör zu
finden und ihre Anliegen vorzubringen – wie verzerrt auch
immer.
Es existiert ein Text, der ein Idealbeispiel für diese neue Art von Austauschprozessen darstellt und eine
durchschlagende politische und weltanschauliche Wirkung entfaltet hat. Es handelt sich um einen Teil des indischen
Versepos »Mahabharata«, der aus einem philosophisch-
moralischen Lehrgespräch zwischen dem Gott Krishna und
dem Fürsten und Krieger Arjuna besteht, die sogenannte
»Bhagavad Gītā« (»Gesang des Erhabenen«; im Folgenden
»Gita«). Die Übersetzungen dieses heute weltbekannten
Textes waren in Europa und schließlich in Indien selbst auf
ganz andere Weise einflussreich als die Übertragungen von
»Tausendundeine Nacht« oder der Gedichte von Hafis, Omar Khayyam und anderen »orientalischen« Dichtern.3
Graf Keyserling hat in seinem (indischen) »Reisetagebuch
eines Philosophen« (1919) die Gita als das »vielleicht
schönste Werk der Weltliteratur« bezeichnet, obwohl es,
wie er hinzufügte, »vielen als philosophisch wertloses
Kompilat [gilt]«.4 

Mit dem philosophischen Gehalt des Gedichtes hat sich
kein Geringerer als Hegel in einem längeren Text aus dem
Jahr 1826 auseinandergesetzt. Er reagierte damit auf eine
Vorlesung über die Bhagavad Gita aus dem Jahr 1826 von
Wilhelm von Humboldt, der »diese Episode des MahaBharata das schönste, ja vielleicht das einzige wahrhaft
philosophische Gedicht« nannte, »das alle uns bekannten
Literaturen aufzuweisen haben«.5 (Humboldts Satz klingt,
scheint es, bei Keyserling nach.) Hegel dürfte sich durch die
große Aufmerksamkeit für eine fremde, sich seinem System
entziehende Philosophie herausgefordert gefühlt haben,
zumal Humboldt die in der Gita vertretene indische Ethik in
die Nähe kantischer Moralvorstellungen rückt: »In dem
Verzichten auf die Früchte der Handlungen [welche Krishna
fordert], liegt das, was wir auch heute noch als die reinste
Sittenlehre erkennen, das Handeln aus bloßer
Pflichtgemäßheit, das Üben der Tugend um ihrer selbst
willen.«6
Es lohnt sich, die folgenden Ausführungen über die
Bhagavad Gita mit Hegels Reaktion auf Humboldt zu
beginnen.

Kann jede Person im politischen Sinn nur frei sein, wenn
sie von anderen Personen klar unterscheidbar, getrennt ist,
und verdankt ein »Individuum«, wörtlich das »Unteilbare«,
seinen Namen dem Besonderen87, Abgesonderten, so
bedeutet dieser Riss auch eine Infragestellung,
Relativierung, Aussetzung der vorherrschenden
Vorstellungen von Identität und Individualität. Er reißt sie
auf, öffnet sie.
Die Ahnung, dass das Individuum nichts ist, treibt auch
den Buddhismus an, wo nirvāna »das Ausblasen, das
Erlöschen des Ich-Wahns bedeutet« (was nebenbei gesagt
heißt, dass dieser Ich-Wahn keine moderne westliche
Erfindung, kein Phänomen des Spätkapitalismus ist). »Des
Ichbewusstseins Beseitigung ist fürwahr das höchste
Glück«, lautet ein bekannter Ausspruch Buddhas.88 Und in
einem Lehrgespräch sagt er:
Darum also, o Mönche: was auch immer Körper ist,
vergangen, gegenwärtig, zukünftig, innerlich oder
äußerlich, grob oder fein, […] ist den Tatsachen
entsprechend mit vollkommener Weisheit so zu
betrachten: Das ist nicht mein; der bin ich nicht, das ist
nicht mein Selbst! Was auch immer Empfindungen sind,
was auch immer Wahrnehmung ist, was auch immer
Geisteskräfte sind, was auch immer Bewusstsein ist […]:
Das ist nicht mein, das bin ich nicht; das ist nicht mein
Selbst!89
Verständlicherweise faszinieren solche Lehren. Für unsere
Fragestellung sind sie jedoch nur bedingt interessant. Es
kann nicht darum gehen, den Nullpunkt, nirvāna, zu
erreichen, sondern nur darum, die Struktur zu nutzen und
zu reflektieren, die sich aus der theoretischen Möglichkeit
eines solchen Nullpunktes des Bewusstseins ergibt und
welche ich mit der hypothetischen Position jenseits aller
Narrative, Ideologien, Vorstellungen gleichsetze. Wer sich
zutraut, diese Position als solche zu erreichen, möge es
gern versuchen; (kosmo-)politisch ist es wenig relevant.90
Ich gehe also davon aus, dass wir uns stets in
Vorstellungen und Narrativen bewegen, ja uns ohne sie, so
diffus sie auch sein mögen, gar nicht orientieren,
geschweige denn komplexe Gesellschaften organisieren und
zusammenhalten können. Gesteht man dies zu, ist es aber
umso wichtiger, auch die wenigstens theoretisch
wohlbegründete Möglichkeit eines Nullpunktes dieser
Narrative zu bedenken, um das, was innerhalb der
Narrative durchaus als schlüssig, wahr, plausibel, wirklich
erscheint, nicht auch absolut und damit für alle, für die
ganze Welt, als wahr, plausibel, wirklich aufzufassen,
vielmehr die Hintergehbarkeit, Auflösbarkeit dieser
Wahrheit anzuerkennen. Dies und nichts anderes sollte
heute eine kosmopolitische Haltung sein. Erst dann gewinnt
man Flexibilität und eine Freiheit nicht nur im Rahmen
eines gegebenen Narrativs, einer jeweiligen kulturellen
Prägung, sondern auch eine Freiheit von diesen
Einrahmungen. Zugleich bedeutet die Annahme dieses
Nullpunktes aber nicht völlige Beliebigkeit, nicht ein
wertfreies anything goes, sondern bedeutet über jedes
einzelne Narrativ hinaus einen Zusammenhalt, eine
Gemeinsamkeit, eine Überindividualität, Transzendierung
begrenzender Identität, welche eine Form von narrativer
Milde vorgibt und stets etwas Höheres und Gemeinsameres
als das bloß Gegebene, Aufscheinende ansetzt.
Die Weigerung oder Unfähigkeit, eine derartige Lehre
vom Nullpunkt und damit der Begrenztheit und Relativität
eines jeden Narrativs zu akzeptieren, scheint die zentrale
Problematik sowohl der Ideologie des Westens wie auch
vieler Religionen zu sein, sofern sie die eigenen
Erzählungen von Gott als absolut setzen. Kein gebildeter
Vertreter einer konkreten, positiven Religion wird um die
Erkenntnis herumkommen, dass es sich auch bei der
seinigen »nur« um ein solches Narrativ handeln kann, jede
Religion folglich eine innerweltliche Form der Seinsdeutung
neben vielen anderen ist, die gleichberechtigt Sinnstiftung
beanspruchen. Zu den großen Leistungen der Bibelkritik
und der Aufklärung zählt es, das Bewusstsein dafür
geschärft, wenn nicht überhaupt erst geschaffen zu haben,
dass Religionen Narrative sind, vom Menschen gemacht,
menschlichen Bedingungen unterworfen, in ihren konkreten
Erscheinungsweisen nie transzendent – und dass sie sich
aufgrund dessen von der höheren, höchsten,
transzendenten Instanz unterscheiden lassen.
Dies heißt aber auch, dass sie sich immer schon im Raum
des Politischen befinden. Dies hatte Gandhi in Europa
gelernt und befähigte ihn in Indien dazu, nun seinerseits in
die Religion einzugreifen, sie auf seine Weise zu
interpretieren und zu politisieren, sie zu einer Kraft
umzugestalten, zu einem Narrativ, welches den Widerstand
gegen den Kolonialismus mitgetragen und den gewaltlosen
Widerstand salonfähig und erfolgreich gemacht hat. Durch
seinen ostentativen Bezug auf den Hinduismus und lokale
Traditionen, ideologisch gestärkt durch seine Deutung der
Bhagavad Gita, gelang es Gandhi, aus dem unhinterfragten
und unhinterfragbar scheinenden westlichen Narrativ von
Freiheit, Staat und Politik herauszuspringen und alternative
Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen.
Baut das westliche Narrativ, wie es auch von den
Engländern vertreten wurde, auf dem (National-)Staat auf,
auf die Vorstellungen von Ich, Individuum, Subjektivität, die
mit dem Staat in einem Bedingungsverhältnis stehen, weil
seine Existenzberechtigung vornehmlich darin besteht,
diese Vorstellungen zu schützen und lebbar zu machen,
lässt Gandhi dieses Narrativ hinter sich. Er hatte
verstanden, dass innerhalb dieses von den Briten
vorgegebenen Rahmens und der britischen Gesetze keine
Verbesserung der Situation in Indien möglich war – die
britische Verantwortungsethik beziehungsweise der
britische »Privatgebrauch« der Vernunft zu Diensten des
Staates deutete oder beugte diese Gesetze unweigerlich
stets zuungunsten der Inder. Die meisten anderen
Freiheitskämpfer, zumal die sogenannten »Extremisten«
(wie Aurobindo und Tilak), wandten lediglich den
westlichen Freiheitsbegriff gegen den Westen, antworteten
also auf die Gewalt mit Gegenwalt und blieben damit der
westlichen Vorstellung von Identität, Nation, Freiheit,
Politik verhaftet – verständlich insofern, als es
trügerischerweise ausgerechnet dieses westliche
Politikverständnis war, das Freiheit und Unabhängigkeit
versprach. Der radikalste Vertreter eines indischen
Nationalismus nach Art der europäischen Nationalismen
war Vinayak Damodar Savarkar (1883–1966). Er gilt nicht
nur als Vordenker der gegenwärtigen,
rechtsnationalistischen Regierung Indiens unter
Premierminister Narendra Modi, sondern auch als
derjenige, der den Mörder von Gandhi und frühere
Attentatsversuche gegen ihn inspiriert hat.91
Gandhi hingegen stellte im Lauf seiner Gita-Lektüre, wie
sie sich in seinen »Discourses on the Gita« (1926)92
spiegelt, die Vorstellungen von Staat, Identität, Individuum
radikal in Frage. Den Dreh- und Angelpunkt bildet dabei
der Begriff der Freiheit, den Gandhi nicht westlich, sondern
indisch versteht. Gandhi ersetzt den westlichen Begriff der
politischen Freiheit durch den indischen der entsagenden
Freiheit, der Freiheit, die entsteht, wenn man nichts mehr
von der Welt will und von ihr unabhängig wird.93 Eine
solche Haltung hebelt die vom westlichen Freiheitsbegriff
vorgegebenen Paradigmen aus, wie sie Hegel so klar
formulierte: die Unterscheidung zwischen Geist und Natur
(also den Dualismus), die von Subjekt und Objekt, die von
Identität (sowieso die von nationaler Identität) und Nicht-
Identität und die von Individualität und Gemeinschaft. Denn
das Selbst im indischen Sinn, das ātman, ist überindividuell,
der »Ich-Wahn« löst sich darin auf, wie wir an den Zitaten
aus den Reden von Buddha gesehen haben.
Dass dies für Gandhi nicht nur Gerede war, zeigt sich an
einem auffälligen Zug seines politischen Wirkens und seiner
Erscheinung. Seine Ablehnung des westlichen
Unterscheidungswahns und westlicher Identitätspolitik
machte nicht einmal vor geschlechtlichen Unterschieden
halt. Gandhi tritt als androgynes Wesen auf. Der
Psychoanalytiker Erik H. Erikson schreibt über Gandhi:
Ob es jemals einen anderen politischen Führer gegeben
hat, der beinah seinen Stolz darein setzte, halb Mann und
halb Frau zu sein, und der in so skandalöser Weise wie
Gandhi danach strebte, mütterlicher zu sein als die
Frauen? […] Doch die feminine Bildlichkeit scheint sich
zwanglos-natürlich eingestellt zu haben. Es hat natürlich
viel Gerede über Gandhis Liebe zur Arbeit am häuslichen
Spinnrad gegeben, die […] traditionsgemäß Frauenarbeit
war. All solchem Gerede indessen würde Gandhi mit dem
schlichten Eingeständnis begegnet sein, dass er, ja
gewiss, angestrebt habe, halb Frau zu sein, ganz so wie er
Churchills herabsetzende Bemerkung über den nackten
Fakir mit der Versicherung konterte, dass er, ja
unbedingt, so nackt sein wollte wie nur möglich.94

Cover des Buches Jenseits des Westens (ISBN: 9783446258495)
Rolf-BernhardEssigs avatar

Rezension zu "Jenseits des Westens" von Stefan Weidner

Rolf-BernhardEssig
Frische Luft unter der Schädeldecke

Was ist der Unterschied zwischen einer Meinung und einem Urteil? Meinen kann man frisch von der Leber weg so ziemlich alles. Stefan Weidner dagegen urteilt auf Grundlage seines sprachlichen, philosophischen und persönlichen Schatzes an Wissen und Kentnnissen der westlichen Welt, der östlichen, der arabischen, der sogenannten orientalischen, der Geschichte und der politischen Tatsachen. Er fällt auf dieser Grundlage Urteile, die einen neuen Kosmopolitismus ermöglichen sollen, einen, der diesen Namen verdient und nicht heimlich westlich arrogante Fundierung besitzt.
Man kann Weidner in einigen Punkten und Urteilen widersprechen, und genau das macht die Qualität des Buches klar. Man wird zum Selbstdenken angeregt, zum Überprüfen, und man kann seine Urteile, weil es eben nicht bloß so hingesagte Meinungen sind, bewerten, entkräften oder bejahen. Unbedingte Leseempfehlung!

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