Noch ein Buch über Karl den Großen? Erst vor zwei Monaten ist Johannes Frieds Biographie des Frankenkönigs und Kaisers erschienen. Im Vorfeld des nahenden Jubiläums - Karls des Großen Todestag jährt sich im Januar 2014 zum tausendzweihundertsten Mal - hat nun auch der Mediävist Stefan Weinfurter, eigentlich ein Experte für hochmittelalterliche Geschichte und die Zeit der Salier, ein Buch über Karl den Großen vorgelegt. Allein schon aufgrund seines schlanken und handlichen Formats ist es eine willkommene Alternative zu den sehr viel umfangreicheren Darstellungen von Dieter Hägermann und Johannes Fried.
Weinfurters Buch bietet wenig Überraschendes. Es fasst knapp und mit dem Blick für das Wesentliche zusammen, was sich anhand der begrenzten Quellen über Persönlichkeit und Herrschaft Karls des Großen sagen lässt. Auch Weinfurter sieht in der Zeit Karls des Großen eine Schlüsselepoche, eine Zäsur in der Geschichte des Mittelalters. Nicht die Ausdehnung des Frankenreiches erwies sich als Karls bleibende und fortwirkende Leistung, sondern der von ihm geförderte Aufschwung des Geisteslebens und der Wissenschaften. Mit der sogenannten Karolingischen Renaissance, die eine lange Phase kulturellen Verfalls im lateinischen Europa beendete, leisteten Karl der Große und die Gelehrten an seinem Hof einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Wiederaneignung, Bewahrung und Weitergabe antiken Wissens und antiker Literatur. Ohne diese Karolingische Renaissance wäre die Verbindung Europas zum geistigen Erbe der Antike vielleicht vollständig abgerissen.
Wie andere Autoren betont auch Weinfurter, dass die von Karl und seinem Umfeld ausgehenden Bildungsreformen kein Selbstzweck waren, sondern in erster Linie dazu dienten, das religiöse Leben auf eine solide intellektuelle Grundlage zu stellen. Karl war ein dezidiert christlicher Herrscher, der sich den Schutz der Kirche sowie die Pflege, Vertiefung und Ausbreitung des christlichen Glaubens auf seine Fahne geschrieben hatte. Der dreißigjährige Unterwerfungskrieg gegen die Sachsen hatte zweierlei Ziele: Ausdehnung des Reiches und Bekehrung eines bislang heidnischen Volkes. Weinfurter macht keinen Hehl daraus, dass Karl ein gewalttätiger Herrscher war, ein Mann, der dem Geist seiner Zeit entsprechend Gewaltanwendung im Dienst Gottes und des christlichen Glaubens als legitim und notwendig erachtete. Weinfurter ist jedoch weit davon entfernt, Karl als "Sachsenschlächter" zu verurteilen. Stattdessen plädiert er dafür, den Frankenkönig an den Normen und Wertvorstellungen seiner eigenen Zeit zu messen. Geist, Glaube und Gewalt ließen sich damals in einer Weise miteinander verbinden, die uns heute befremdet.
Geleitet vom Bestreben, Karl aus seiner eigenen Zeit und Kultur heraus zu verstehen, zeichnet Weinfurter ein in sich schlüssiges und überzeugendes Bild seines Protagonisten, auch wenn der relative Mangel an Quellen einer Annäherung an Karl und seine Persönlichkeit von vornherein Grenzen setzt. Was Karls Größe, von der schon die Zeitgenossen sprachen, ausmachte, wird immer zu einem Gutteil rätselhaft bleiben. Der Mensch Karl ist für uns im Grunde kaum zu fassen, ein Dilemma, mit dem jeder Historiker leben muß, der sich mit den Herrschern des Früh- und Hochmittelalters auseinandersetzt. Weinfurter setzt gleichwohl eigene Akzente, die sein Buch von anderen Karlsbiographien abheben. Er vertritt die These, der Kirchenvater Augustinus habe mit seinem Werk vom "Gottesstaat" ("De civitate dei") Karls Herrschaft als König und Kaiser nachhaltig beeinflusst. Augustinus als Ideengeber Karls des Großen? Fachleute werden dieses Diskussionsangebot vielleicht interessiert aufgreifen, während Laien damit sicher wenig anfangen können. Gerade an diesem Punkt zeigt sich, dass ein gewisses Maß an Vorwissen bei der Lektüre des Buches hilfreich ist.
Weinfurter behandelt alle Aspekte, die in einer Biographie Karls des Großen vorkommen müssen. Im Zentrum der Darstellung stehen erwartungsgemäß die Herrschaftspraxis des Königs und Kaisers, seine Kriege, seine Beziehungen zum Papsttum. Was die Annahme des Kaisertitels im Jahre 800 angeht, so hält sich Weinfurter an den Konsens der heutigen Forschung: Karls immense Machtfülle, die im lateinischen Europa ihresgleichen suchte, sollte endlich mit einem passenden Titel versehen werden, und dafür kam nur der Kaisertitel in Frage. Das fränkische Reich brach schon wenige Jahrzehnte nach Karls Tod auseinander. Das im Dezember 800 wiederbegründete westliche Kaisertum hingegen bestand für ein ganzes Jahrtausend. Karl der Große kann heute nicht mehr ohne Weiteres als "Vater" oder "Baumeister Europas" bezeichnet werden. Versuche, West-, Mittel- und Südeuropa in einem Großreich zu vereinen, sind seit den Zeiten Karls des Großen immer wieder gescheitert. Insofern ist das Karolingerreich kein Modell oder Vorbild für eine europäische Ordnung. Dass Karl der Große dennoch einen Platz in unserem historischen Gedächtnis besitzt, verdankt er seiner Bedeutung als Impulsgeber für die Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe der Antike und als Erneuerer des westlichen Kaisertums, einer Institution, die die europäische und deutsche Geschichte für Jahrhunderte prägte. Diese Leistungen finden in Stefan Weinfurters gut lesbarem Buch ihre verdiente Würdigung.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im November 2013 bei Amazon gepostet)