Rezension zu "Boca do Inferno" von Fernando Pessoa
"Ich sollte eine vielgestaltige Lektüre sein / Selbst für mich!" (Fernando Pessoa)
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"Sollte man die Auffassung teilen, nach der das Fragmentarische oder Unvollendete eine der wesentlichen künstlerischen Charakteristiken der Moderne seien, dann müsste man Fernando Pessoa als einen ihrer würdigsten Vertreter ansehen.", stellt Pessoa-Forscher Dr. Steffen Dix fest. Der Übersetzer und Herausgeber der Schriften des Dichters im deutschsprachigen Raum, der derzeit auch als Fellow an der Universität Lissabon arbeitet, beleuchtet im vorliegenden Buch eine weitere, allerdings eher unbekannte Facette dieser großen poetischen Schlüsselfigur des 20. Jahrhunderts, als der der portugiesische Autor zweifelsohne bezeichnet werden kann. Praktisch gibt es von Pessoa kein wirklich abgeschlossenes, fest umrissenes oder irgendwie definitives Werk, wenn man einmal von seinem erst kurz vor seinem Tod und nur auf äußeren Druck von Bekannten hin publizierten Gedichtband 'Mensagem' (Botschaft) oder den englischen Dichtungen absieht. Aus seinem hinterlassenen, imposanten "Kuriositätenkabinett" - eine Art Zettelbaukasten aus beschriebenen Kalenderblättern, Tischservietten, Rechnungsblöcken, Briefumschlägen, Notizbüchern, Buchdeckeln oder gelegentlich auch Plakatresten - wird immer wieder Erstaunliches zu Tage gefördert. Fest steht: "Er selbst und alle seine Fragmente müssten als ein einziges Gesamtbuch angesehen werden, das fortwährenden Variationen unterliegt.", so Dix.
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Zu einem dieser Fragmente, das sich unter einem weiteren Konvolut von Dokumenten befand, die erst im Jahre 2007 von der Familie Pessoas bekannt gemacht wurden und versteigert werden sollten, gehörte das "Dossier Crowley": Ein Briefwechsel Pessoas mit dem englischen Okkultisten, Magier, Schriftsteller und Abenteurer Aleister Crowley und das aus deren Treffen entstandene Romanfragment "Mouth of Hell". Beide sind Bestandteil des vorliegenden Buches aus dem S. Fischer Verlag, der erfreulicherweise die vom Ammann Verlag mit viel Liebe und Ausdauer begonnene Edition der Werke Fernando Pessoas fortsetzt.
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Steffen Dix hat in dieser - international ersten - Ausgabe den Briefwechsel vollständig auf Basis der Originaldokumente erarbeitet, übersetzt und chronologisch nach dem Abfassungsdatum geordnet, was sich sicherlich keineswegs eine simple Aufgabe gewesen sein dürfte, da Pessoa einige Briefe nur mittels astrologischer Symbole datiert hatte - einer Leidenschaft, die der Autor recht professionell frönte. Zum besseren Verständnis des mysteriösen Gesamtgeschehens um das merkwürdige Treffen zwischen den beiden so ungleichen Männern sind alle Briefe mit Zwischenkommentaren des Herausgebers und Übersetzers versehen. Diese erzählenden Überleitungen helfen dem Leser bei der Nachvollziehbarkeit des rätselhaften "Pessoa-Crowley-Rendezvous" außerordentlich. Dix Erläuterungen und Vermutungen beruhen dabei vorwiegend auf der Analyse von Crowleys Tagebüchern aus jener Zeit, diversen Crowley-Biografien/-Studien und bekannten biografischen Details aus dem Leben Fernando Pessoas.
Auch mit dem zweiten Teil des Buches - einer Detektivgeschichte Pessoas, die sich um das rätselhafte Verschwinden Crowleys dreht - hatte Steffen Dix wohl seine liebe Not, da auch sie nur in einer relativ chaotischen Anordnung als Fragment vorlag und er sie ungefähr Pessoas eigenen Publikationsplänen entsprechend sowie in einer halbwegs logischen chronologischen Abfolge und auf Lesbarkeit bedacht zusammenstellte.
Ergänzt wird das Buch durch ein ausführliches Nachwort des Herausgebers sowie einige Gedichte Pessoas, die sich um die rätselhafte Verbindung mit dem englischen Magier drehen, in Originalsprache und einer Übertragung ins Deutsche von Steffen Dix.
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Entstanden ist ein gut lesbarer und durch Steffen Dix bestens erläuterter Stoff, der einen völlig neuen und außergewöhnlichen Blick auf den bescheidenen und zurückgezogen lebenden portugiesischen Dichter Fernando Pessoa wirft und aufzeigt, dass er auch noch lange nach seinem frühen Tod im Jahre 1935 "mehre wirkliche, mitunter sehr fidele Autoren" ist und bleibt. Eventuelle Wiederholungen, gelegentliche Widersprüche oder Überschneidungen sind wohl den Variationen desselben Themas und dem nicht ganz kohärenten Inhalt der Fragmente geschuldet, tun jedoch der äußerst interessanten Publikation keinen Abbruch. Zeigen doch gerade sie, welch "verspielte Begeisterung am Mysterium vom Höllenschlund" sowohl Fernando Pessoa als auch Aleister Crowley entwickelten und welch gemeinsamen Spaß an der Manipulation der Öffentlichkeit sie hatten. "Und genau so sollte dieses historische Ereignis auch begriffen werden - als eine makellose Ironie.", stellt Steffen Dix abschließend fest.