Rezension zu "Civitas Berolinensis" von Steffi Kühnel
Das Mittelalter ist sicherlich eine Epoche, die sich in Zusammenhang mit der deutschen Hauptstadt nicht gerade als erstes aufdrängt. Nicht zuletzt deshalb, weil materielle Relikte aus dem Mittelalter in Form von Gebäuden in Berlin kaum zu finden, oder erkennbar sind.
Auch die schriftliche Quellenlage ist für das mittelalterliche Berlin vergleichsweise dürftig. Aber ausgerechnet in das berliner Mittelalter und damit zu den Anfängen der Hauptstadt, führt Steffi Kühnel den Leser oder besser Nutzer des Buches „Civitas Berolinensis“ mit seinen drei Geschichtstouren. Und gleich bei der ersten Station der Tour 1 „beamt“ die Autorin den entdeckungsfreudigen Leser zum Spittelmarkt, mitten in die städtische Betonwüste, zwischen die Verkehrsadern der pulsierenden Hauptstadt. Hier, so die Autorin, steht man aus historischer Perspektive direkt vor der Stadtmauer des mittelalterlichen Cölln, neben Berlin eine der beiden Keimzellen der heutigen Metropole. Zu sehen ist außer Beton und Verkehr an dieser Stelle nichts und so bemüht Steffi Kühnel zunächst vor allem die Phantasie des Entdeckungsreisenden und füttert diese mit Hintergründen zur historischen Entwicklung dieses Ortes und dem Hospitalwesen in der mittelalterlichen Stadt. Denn der geneigte Leser hat es längst erahnt: die Bezeichnung Spittelmarkt lässt sich vom allgemeinen Begriff Hospital ableiten und speziell auf das 1404 hier vor dem Teltower Tor errichtete Gertraudenhospital zurückführen.
Selbstverständlich bleibt es nicht bei der rein fiktiven Reise ins berliner Mittelalter. Schritt für Schritt oder besser Station für Station führen die Geschichtstouren den Forschungsreisenden an Orte, deren Vergangenheit mit Unterstützung der Hintergrundinformationen immer greifbarer wird. Nicht zuletzt das interessante Interview mit der Ausgräberin des Petriplatzes zeigt, dass auch die Stadt selbst wieder beginnt, sich ihrer mittelalterlichen Vergangenheit zu erinnern.
Natürlich beinhalten die Geschichtstouren zu den Anfängen der Hauptstadt nicht nur „Geheimtipps“ sondern auch stadtführerische Standardkost und –Stationen, denn Berlins materielles Mittelalter liegt, wenn überhaupt noch vorhanden, vor allem unter Asphalt und Beton. Und so ist es auch kein Wunder, dass das Buch aus der Reihe der „Geschichtstouren für Entdecker“ auch Besuche in den mittelalterlich ergiebigeren Orten Spandau, Köpenick und dem Museumsdorf Düppel beinhaltet. Aus mittelalterlicher und selbst neuzeitlicher Perspektive haben diese Orte natürlich nichts mit Berlin am Hut. Noch im 19. Jahrhundert lagen Spandau, Köpenick und Dahlem weit außerhalb der berliner Stadtgrenzen und im Mittelalter konnte Berlin den deutlich verkehrsgünstiger gelegenen slawisch dominierten Handelszentren lange Zeit nicht im Entferntesten das Wasser reichen.
Das Unterfangen, das mittelalterliche Berlin in eine respektive drei Geschichtstouren zu packen, ist angesichts der dürftigen materiellen und literarischen Quellenlage zweifellos ein Wagnis. Die meisten der ansonsten präsentierten, teilweise recht spektakulären historischen Orte und Gebäude der königlichen und kaiserlichen historischen berliner Mitte können hier als Beweismittel nicht zugelassen werden. Diesen Mangel muss das Buch letztendlich ausgleichen. Und dieser Ausgleich gelingt tatsächlich durch die Konzentration auf recht ausführliche Hintergrundinformationen zu zentralen Themen, wie mittelalterliches Hospitalwesen, Marktleben oder Gerichtswesen. Und auch wenn dem einen oder anderen Leser bestimmte Themen zu kurz kommen mögen, bei dieser Thematik und dem Buchformat ist weniger ganz sicher mehr. Und so liegt die Stärke des Buches nicht wirklich in den ersten historischen Einführungs- und Überblickskapiteln, sondern tatsächlich in den Geschichtstouren selbst.
Mit dem Buch in der Hand kann man das mittelalterliche Berlin hervorragend entdecken, historische (wenn auch naturgemäß nicht mittelalterliche) Bilder und Fotos verstärken die Vorstellungskraft und die Tourenkarten sind klar, eindeutig und übersichtlich. Besonders schön auch die historischen Stadtpläne im Infoteil, die die räumliche und strukturelle Entwicklung Berlins von 1230 bis 1860 verdeutlichen. Die ‚Zeitscheibe’ Mittelalter ist bei diesem Buch letztendlich vom Wagnis zum Beispiel für hoffentlich weitere ‚Epochentrails’ geworden.