Rezension zu "Rot und Schwarz" von Stendhal
Worum geht es?
Es geht um das Leben und den sozialen Aufstieg des jungen, leidenschaftlichen und stolzen Julien Sorel, der bescheidener Herkunft ist, es aber vom einfachen Hauslehrer in einer kleinen Provinzstadt über das Priesterseminar in Besançon bis in den Palast eines einflussreichen Marquis in Paris schafft. Bestimmend in seinem Leben ist seine fatale Liebe zu der sozial über ihm stehenden, älteren und verheirateten Madame de Rênal.
Kritik
Wow! Ich habe etwas gezögert, ob ich wirklich einen 750-Seiten Roman lesen möchte. Nach spätestens zehn Seiten war ich mit in dem fiktiven Provinznest Verrières. Das lag für mich an dem wunderbaren auktorialen Erzähler und an dem ungewöhnlichen Protagonisten, dem leidenschaftlichen Julien Sorel, einem der faszinierendsten Charaktere der Literaturgeschichte. Gegen ihn wirken alle Jane Austen Helden wie brave und spröde Finanzbeamte und selbst Brontes Heathcliff kommt recht nüchtern und pragmatisch daher.
Der Roman spielt zur Zeit der französischen Restauration (1815-1830). Rot und schwarz stehen für die militärische Karriere (die nach der Abdankung Napoleons nicht mehr möglich ist (rot) und die Laufbahn als Priester (schwarz), die eine Zeitlang als einzige Option für ein Fortkommen (räumlich wie sozial) erscheint. Interessant ist, dass Stendhal diesen Roman nach einer wahren Begebenheit geschrieben hat, er wurde inspiriert von einem Mordprozess. Der Roman soll zu Lebzeiten Stendhals keinen großen Erfolg gehabt haben, zählt aber heute zu den französischen Klassikern.
Wir begegnen Julien, wie er mit der Nase in einem Buch steckt und von seinem brutalen und grobschlächtigen Vater gesucht wird, der möchte, dass er im väterlichen Sägewerk arbeitet. Für so grobe körperlichen Tätigkeiten ist er gar nicht geeignet. „Er verabscheute seine Heimat, alles, was er hier sah, lähmte seine Phantasie.“ (37).
Er träumt von einer Karriere im Militär, verehrt Napoleon leidenschaftlich. Und leidenschaftlich ist er in allen Dingen. Er ist impulsiv, idealistisch, neigt zu Extremen, er liebt und hasst, und es scheint kaum etwas dazwischen zu geben, er ist ein Außenseiter, fühlt sich fremd unter den Menschen, gehört nicht zu denen, in deren Kreis er geboren wurde, wird von denen, in deren Kreise er gelangt nie ganz akzeptiert und wird zerrissen von dem Bewusstsein, dass er ihnen intellektuell und moralisch überlegen ist, aber von ihnen aufgrund seiner Herkunft immer als unterlegen betrachtet werden wird. Julien ist ehrlich, authentisch und möchte dem Leser nicht gefallen.
Er ist allein, aber sehnt sich nach einer Freundin, nach Liebe, nach einer authentischen Bindung auf Augenhöhe und kann es nicht glauben, als er sie in der Ehefrau des Monsieurs de Rênal findet – eine Liebe (nach etwas zweifelhaften Anfängen, denn zu Beginn möchte Julien sich eigentlich nur hochschlafen), die eigentlich nicht sein kann, nicht darf, und der er sich immer wieder aufs Neue rückversichern muss. Wow! Was für eine Liebesgeschichte! Oh, was habe ich mit den beiden gelitten! „Die große seelische Krisis änderte von Grund auf die Art des Gefühls, das Julien mit seiner Geliebten verband. Seine Liebe war nicht mehr lediglich Bewunderung ihrer Schönheit und Stolz auf ihren Besitz. Ihr Glück war nunmehr von einer weit höheren Art; die Flamme, die sie verzehrte, schlug mehr und mehr über ihnen zusammen. Sie durchlebten Augenblicke unsinnigsten Taumels. Unbeteiligten hätten sie für glücklicher als je gegolten.“ (168)
Aus moderner Sicht, in der es diese Schranken nicht mehr gibt, in der auch die Religion nicht mehr die bestimmende Rolle spielt (die Frau droht an ihrer Reue und ihrem Schuldempfinden zugrundezugehen), in der auch die Liebe einen anderen Stellenwert hat und auch anders gelebt wird (wer neigt heute noch zu tränenreichen Geständnissen und impulsiven dramatischen Aktionen), alles eher rational und pragmatisch ist, war es einfach für mich so schön, den beiden altmodischen und leidenschaftlich Liebenden zuzusehen. Denn eigentlich ist es ein Roman über die (transgressive) Liebe und die Leidenschaft, die ein Leben ausmachen und zugrunderichten kann. Zugleich über den Ehrgeiz, das Machtstreben und das Verkennen des Glücks, das man in Händen hält. So etwas kann natürlich nicht gut ausgehen – das ist klar. Es gibt keinen Sonnenuntergang, in den die beiden reiten werden. Der Verlauf ist tragisch. Genaueres werde ich dazu nicht verraten. Es bleibt mitreißend– auf allen 750 Seiten. „Ja, nun ist mein Roman eigentlich zu Ende“, dachte er, „und ich allein war meines Glückes Schmied.“ (627).
Also, im ersten Teil hat mich die Liebe zwischen den beiden fasziniert, das Priesterseminar ist wichtig für den Fortgang der Handlung und durchaus interessant, der Klerus kommt nicht besonders gut weg, aber richtig spannend wird es dann in Paris. Nicht nur, weil dort eine zweite Frau ins Spiel kommt. Julien betritt die Kreise, zu denen er immer gehören wollte, doch auch wenn er mitten unter ihnen ist, jedes Wort, das er sagt, wird auf die Goldwaage gelegt, er muss stets auf der Hut sein, er muss stets Acht geben, wer Freund und wer Feind ist, ihm steht es nicht wie den anderen frei, auszusprechen, was er denkt. Ich kann dieses Gefühl der Nichtzugehörigkeit sehr gut nachvollziehen.
Insgesamt: man muss die Romantik mögen, man muss auch den Stil, der aus heutiger Sicht überbordend ist, die Charaktere, die in hohem Maße empfindsam sind, mögen. Moderne Romance wirkt dagegen nüchtern und etwas steril. Wer keinen Funken von Julien in sich trägt, mag den Roman schwülstig und langweilig finden. Bei mir wird er einen besonderen Platz im Regal erhalten.