Cover des Buches Das Hannibal-Syndrom (ISBN: 9783492236508)
RalfEbersoldts avatar
Rezension zu Das Hannibal-Syndrom von Stephan Harbort

Auch Serienmörder sind Menschen. Nur eben keine "normale Menschen" wie wir.

von RalfEbersoldt vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Stephan Harbort nimmt uns mit auf eine Reise in die Abgründe düsterer Seelen - packend, spannend, sachlich und informativ zugleich.

Rezension

RalfEbersoldts avatar
RalfEbersoldtvor 7 Jahren

Wir alle kennen die fiktive Filmfigur Dr. Hannibal Lecter , die viele fasziniert. Auch die Rolle der FBI-Agentin im Film fasziniert viele.

Wenn Medien einen Artikel über einen gefassten Serienmörder veröffentlichen, steht zum Beispiel im Artikel “Er galt als höflich, freundlich, und umgänglich“ oder auch “Seine Nachbarn beschreiben ihn als häufig ungepflegt, und er hatte wenige bis keine soziale Kontakte“. Manche der Festgenommenen sind Gelegenheitsjobber, manch andere sind gebildet, Familienväter, gut situiert, haben einen guten Ruf, und arbeiten seit Jahren im selben Betrieb. Wie auch bei den Opfern sind auch die Berufe der Serienmörder in allen Breiten und Graden vertreten: vom einfachen Arbeiter bis hin zum Krankenpfleger, Polizeibeamte oder Mediziner – jede Berufsgruppe war schon mal dabei.

Man fragt sich, wie man ein Buch über Serienmörder schreiben könnte?! Schreibt man eventuell einen Roman, in dem der Serienmörder aus verschmähter Liebe den Verstand verliert und deshalb zum Serienmörder wird? Oder schreibt man einen Ratgeber à la “Vor diesen und solchen Menschen sollte man sich schützen“? oder etwa – im Sinne des modernen Immer-Einfacher-Werdens – einen Ratgeber namens “Soziopathie für Dummies“? Letztere beide Möglichkeiten würden meiner Ansicht nach sowohl Täter als auch Opfer als auch Angehörige jeglicher Art verspotten, dafür ist die Thematik zu ernst.

Stephan Harbort, 1964 in Düsseldorf geboren, ist deutscher Kriminalist und international anerkannter Fallanalytiker, der die Bezeichnung Serienmörder entscheidend mitgeprägt hat. Man kennt ihn auch als Fall-Kommentator diverser Fernsehsendungen.

Für seine Bücher hat er insgesamt mehr als 35.000 Seiten an Tatortbefund- und Obduktionsberichte, Vernehmungsprotokolle, psychologische und psychiatrische Gutachten, Anklageschriften, Gerichtsurteile ausgewertet sowie hunderte Interviews mit deutschen Serienmördern geführt.
In seinem Buch “Das HANNIBAL-Syndrom“ lässt er die Leser nicht lange zappeln, sondern beginnt mit Fakten.

Zwei Zitate aus dem Vorwort:

"Aus diesem Hollywood-Effekt - subjektiven Eindrücken und deren dramatischer Ausgestaltung wird unangebracht Gültigkeit zugeschrieben - ist eine Vielzahl von Aussagen über Serienmörder hervorgegangen, von denen wenige näherer wissenschaftlicher Betrachtung standhalten. So sollen Serienmörder zum Beispiel deutlich intelligent sein, und es soll sich bei ihnen niemals um Amerikaner afrikanischer Abstammung handeln."

"Serienmörder greifen, so wird behauptet, nur solche Opfer an, die dieselbe ethnische Zugehörigkeit haben wie sie selbst, und in ihren Taten glaubt man stets das Vorhandensein einer starken sexuellen Komponente zu erkennen." (Zitatende)

Gleich das erste Kapitel beginnt der mit Protokollen des Falls Gerhard Bold, der während der 1970er Jahre binnen neun Wochen eine 15-jährige und weiter drei Frauen zwischen 24 und 52 Jahren zu Tode gewürgt hatte. Eine Verurteilung wegen vierfachen Mordes war im sicher.

Dem Motiv des Frauenhasses und der sadistischen Freude am Töten wollte das Schwurgericht im Jahr 1973 allerdings nicht zustimmen. Begründung (Zitat): “Gerhard Bold hat nicht schuldhaft gehandelt. Seine Persönlichkeit ist infolge des frühkindlichen Hirnschadens und der fehlgeleitenden Sozialisation hochgradig gestört. Seine charakterliche Abnormität hat in den Belastungssituationen, die jeweils unmittelbar vor den Taten aufgetreten waren, bei ihm zu Zuständen geführt, die einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit gleichzusetzen sind. (…) Die aus dem Angeklagten herauszubrechende Aggressivität, der Sturm des Vernichtungswillens überrannten gleichsam sein nur rudimentär vorhandenes Gewissen. Er war nicht mehr in der Lage, diese eruptiven Ausbrüche zu kontrollieren. (…) Er musste deshalb wegen fehlender Schuld freigesprochen werden. (…) Die Unterbringung des Angeklagten in einer Heil- und Pflegeanstalt wird angeordnet.“ (Zitatende)

>>Wenn man mich raus lässt, bin ich sicher, dass ich wieder eine Frau töten würde.<<, so Bold während des Interviews. Nach 15 Jahren Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen hatten insgesamt 17 Therapeuten mit ihm und an ihm gearbeitet. Und er mit ihnen: im April 1988 war ihm zum wiederholten Male Urlaub bewilligt worden, diesmal sogar ohne Begleitung. In der Begründung galt er als höflich, diszipliniert, kontaktfähig, intelligent, und es habe eine erfolgreiche Therapie stattgefunden mit Stärkung des Selbstwertgefühls, Verbesserung der Impulskontrolle, Fortschritten im wahrnehmen und Äußern von Gefühlen, Abbau aggressiver Tendenzen gegenüber Frauen, realitätsadäquater Einstellung gegenüber seiner Person und seiner Situation.

Noch im April 1988 wollte Bold seine Eltern besuchen. Früh morgens stieg er mit zwei Koffern ausgestattet den Zug, in einem der Koffer hatte er ein Bowie-Messer. Im Zug lauerte er einer 46-jährigen Frau auf. Als sie gerade aus der Toilette kam, ging er auf sie zu, drängte sie zurück in den Waschraum und stach mehrfach auf sie ein. Andere Reisende hörten den Vorfall. Die Frau wurde blutüberströmt in ein Abteil gebracht und versorgt, während die Polizei verständigt und Bold verhaftet wurde.


Nach Harbort sind am Verlauf einer mörderischen Karriere viele Menschen beteiligt – auf die eine oder andere Weise. (Zitat): “Auf die moralische Anklagebank gehört auch das soziale Umfeld der Täter. Solange wir Ursache und Wirkung dieses Gewaltphänomens nicht verstehen wollen, wir uns weigern, auf menschliche Unzulänglichkeiten rechtzeitig und folgerichtig zu reagieren, bringen wir uns in Gefahr – in tödliche Gefahr. Ganz nebenbei begehen wir auch noch moralisches Harakiri. Auch der grausamste Verbrecher hat ein Recht darauf, dass Menschen da sind, die versuchen, ihn zu verstehen. Um solche Menschen zu begreifen, müssen wir in die dunkelsten Gefilde der menschlichen Seele vorstoßen. Das bedeutet emotionale Schwerstarbeit. Das kann nicht jeder, das möchte nicht jeder. Versuchen wir uns dennoch diesen Menschen zu nähern, ihre Taten zu deuten.“ (Zitatende)

Stephan Harbort unterscheidet Serienmörder in verschiedene Kategorien: Vom Serienraubmörder bis hin zum Seriensexualmörder. Auch ist seiner Ansicht nach jeder Serienmörder unterschiedlich einzustufen, weil das jeweilige Motiv ebenso unterschiedlich ist – wenngleich sich die Kindheitserfahrungen der Täter oft ähneln.

Außerdem ist nicht jeder Serienmörder ist gleichzeitig auch ein Sexualmörder. Im Zusammenhang der Definition eines Serienmörders aus der Ansicht des FBI berichtigt Harbort, dass tatsächlich in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs lediglich durch 25 Serientäter (40,1 Prozent aller verurteilten Täter) Sexualmorde verübt wurden. “Davon entsprachen sogar nur 22,9 Prozent dem stereotypischen Persönlichkeits- und Verhaltensprofil des >>echten<< Triebtäters.“ (Zitatende).

Gerne ein paar weitere Fakten in Form von Zahlen aus dem Buch. “Während das National Center oft he Analysis of Violent Crime (NCAVC) für den Zeitraum von Januar 1977 bis April 1992 insgesamt 331 Serienmörder zählte, was in den USA etwa 1 bis 2 Prozent aller Tötungsdelikte ausmacht, wurden in Deutschland (ausgenommen DDR) zwischen 1945 und 2000 67 Männer und acht Frauen verurteilt, die für 421 Tötungsdelikte verantwortlich gemacht werden konnten.

Mindestens 22 Mordserien (83 Opfer) blieben ungeklärt, in diesen Fällen konnte kein Tatverdächtigter ausfindig gemacht werden oder es erfolgte keine Verurteilung. Darüber hinaus standen mindestens 20 Männer unter dem dringenden Tatverdacht, mindestens 3 Opfer getötet zu haben, konnten aber lediglich wegen höchstens zweier Morde verurteilt werden. Nicht übersehen werden dürfen weitere 91 Täter, die wegen zweifachen Raub- und/oder Sexualmords und weiterer versuchter Tötungsdelikte abgeurteilt wurden und aufgrund ihrer vielfach pathologischen Motivations- und Persönlichkeitsstruktur, ihrer speziellen Opferauswahl (regelmäßig keine Vorbeziehung) und der gerichtlicherseits angenommenen >>erheblichen Rückfallgefahr<< als potentielle beziehungsweise verhinderte Serienmörder einzustufen sind. Zudem ließ das mörderische Credo der Täter keine Zweifel aufkommen: >>Ich hätte weitergemacht<<, >>Das wäre eine Lawine geworden.<< Oder: >>Lasst mich bloß nicht raus!<<“ (Zitatende)


Im Falle der Darlegung wissenschaftlicher Fakten gebraucht Harbort zum Teil auch Fachausdrücke, die vielleicht nicht jeder versteht (könnte man aber nachlesen!). Im Zusammenhang mit Interviews mit Serientätern unterschiedlichster Art schreibt er jedoch einfach und verständlich, also menschlich, und lässt uns sogar an seinem Gefühlsleben und an seinen Gedanken teilhaben.

Auch einem erfahrenen Kriminalisten wie Stephan Harbort fällt es nicht immer leicht, in diese dunkelsten Winkel verrotteter Seelen einzudringen. Es hat ihm – wie es selbst schreibt – auch missfallen, diese Berichte der teils ekelhaften Taten zu lesen, manchmal ist er beim Lesen auch wütend geworden. Insbesondere hat ihn mitgenommen, wenn die Mordopfer entweder sehr jung waren (bei 3 Monaten jung angefangen) bis hin zur 91-jährigen Dame. Auch die Geschichten der Hinterbliebenen wie Eltern, Ehepartner, Freunde, Bekannte und Verwandte sind nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Denn wie jeder “ normale Mensch“ sind auch Kriminalbeamte Menschen, und Menschen fühlen nicht nur, sie fühlen mit anderen mit, sie können sich gedanklich wie emotional in andere reinversetzen. Man nennt das auch Empathie.

Bei Serienmördern ist das Entscheiden nach Moral und Ethik eben nicht möglich, sie sind unterentwickelt. Manche sind geistig “normal“, wie jeder von uns, aber alle Serienmörder sind emotional unterentwickelt.

Ein Absatz, der mich persönlich ebenfalls beeindruckt hat: “Möglicherweise unternahm (…, Name eines Serienmörders im Hochsicherheitstrakt, im Interview genannt) aber auch den Versuch, seine Taten auf diese Weise vor sich selbst zu rechtfertigen. Auch unter diesem Aspekt ist vielen Serienmördern eines gemein: Sie können ihre Taten lediglich beschreiben, aber nicht erklären.“ (Zitatende)

Die Frage >>Was hast du dir dabei nur gedacht?!<< wird von manchen Kindern mit einem Schulterzucken oder von manchen Erwachsenen mit einem “Keine Ahnung…?!“ beantwortet. Kommt bekannt vor? Nicht weiter tragisch, wenn es um belanglose Entscheidungen geht, finde ich. Manchmal entscheidet man eben nach dem Kopfkino, manchmal widerum nach dem Bauchgefühl. Spätestens aber bei Entscheidungen, die andere eventuell beeinträchtigen könn(t)en, egal in welcher Form, sollte doch jeder “normal entwickelte Mensch“ (mit Verlaub: jeder Mensch in seiner Weise individuell) in der Lage sein, nach bestem Gewissen und nach Moral und Ethik gehandelt zu haben.

Tief in uns drin steckt allerdings immer noch ein Tier, das auch jederzeit abgerufen werden könnte – bei dem einen minder, beim anderen leichter, also kann jeder Mensch zum Töten animiert werden, Ergo: zum Mörder werden, wenngleich nicht automatisch zum Serienmörder.

Soziopathen können zwar emotional nicht oder nur eingeschränkt nachempfinden, was ihre Opfer fühlen. Allerdings ge- und missbrauchen sie die Gefühle der Opfer als Mittel zum eigenen Zweck, um Lücken zu finden, um ihnen Schaden zuzufügen, sie haben also ihre Opfer “studiert“. Deshalb werden manche Soziopathen als “sehr freundlich und charmant“ beschrieben, handeln aber auch manipulativ und können sehr gut lügen. Außerdem zeigen sie irgendwann im Verlauf ihrer Taten absichtlich auch Änderungen auf, um zum Beispiel der Justiz, den Medien und der Gesellschaft aufzuzeigen, dass andere viel dümmer sind als sie selbst.

Psychopathen interessieren sich gar nicht erst für die Emotionen anderer, machen im wahrsten Sinne des Wortes “ihr eigenes Ding“ – und (ge-)brauchen lediglich den Körper des Opfers/der Opfer, den sie widerum als Spiegelbild ihrer Seele missbrauchen (zum Beispiel bei der Form des Tötens und/oder darin, was danach “geschieht“). Zum Beispiel durch das Ausweiden eines toten Körpers (und anderen Abartigkeiten) reden Psychopathen sich ein, etwas “ganz Besonderes“ getan zu haben, was zuvor noch niemand getan hat, was ja – so gesehen(!) – auch stimmt. An ihrer Argumentation erkennt man die einfache und rationale Denkweise, zum Beispiel in Aussagen wie >>Ich bin nicht krank, habe ja keinen Schnupfen, oder sowas.<< Reflexion ist also nicht möglich, nicht machbar, weil entweder während der Kindheit verlernt oder erst gar nicht beigebracht bekommen, weil sie selber – auf unterschiedliche Weise – missbraucht worden sind.

Wer “Das HANNIBAL-Syndrom“ gelesen hat, wird endgültig verstehen.

Mit besten Empfehlungen
Ralf Ebersoldt

Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks