Rezension zu "Ich geh dann mal nach Tibet" von Stephan Meurisch
Selten hat mich das Ende eines Buches so aufgeregt wie das hier der Fall war, auch wenn ich genau ein solches Ende bereits lange vorher vermutet hatte. Denn: die Aufzeichnungen des Autors offenbaren von Beginn an ein einzigartiges Psychogramm eines Menschen, der glaubt, für ihn sei die Welt umsonst zu haben.
Stephan Meurisch kommt 2011 auf die Idee, nach Tibet zu gehen. Und zwar ohne dafür eigene Mittel während der Reise aufzuwenden. Anfangs macht er seine Leser glauben, er hätte auch keine. Aber bereit das ist gelogen, nur erkennen kann man es da noch nicht. Er wandert also 2012 von München aus los. Ohne im Vorhinein Übernachtungsmöglichkeiten zu haben. Oder Verpflegung. Er erwartet einfach, dass andere ihm ein Dach über den Kopf zur Verfügung stellen und ihn ernähren. Was für manche Zeitgenossen vielleicht interessant klingen mag, ist in Wirklichkeit das blanke Schmarotzertum, denn schließlich müssen andere für ihn arbeiten. Und er findet er auch genügend Menschen, die auf seine Masche hereinfallen. Man kann es auch anders sagen: Er nutzt die Gutgläubigkeit, Menschlichkeit und Gastfreundschaft anderer Menschen schamlos aus.
Er nennt das im Text Freiheit. Aber es ist eine Freiheit, die er sich nicht selbst geschaffen hat, sondern eine auf Kosten anderer. Zwar sind diese Kosten nicht so hoch, dass sie andere ins Unglück stürzen würden, aber es ist schlicht und ergreifend schamlos, sich so zu verhalten. Und schlimmer noch: Es ist in meinen Augen auch widerlich, das auch noch zu glorifizieren. Nicht vordergründig, sondern geschickt immer wieder im Text versteckt durch das Loben der Leute, die ihn immer wieder durchgebracht haben. Die meisten Menschen haben eine natürliche Hemmschwelle, die schmarotzendes Verhalten verhindert. Bei Meurisch existiert so etwas nicht. Und das findet er großartig. Man müsse nur offen auf die Leute zugehen, dann geben sie, was er braucht. Und sie finden für ihn auch andere in den nächsten Orten auf seiner Reise.
Obendrein ist sein ganzes Vorhaben eine einzige Luftnummer, wenn man das Ende kennt. Er wandert also los und kommt bis nach Istanbul. Die ganze Zeit bis dahin macht er sich große Sorgen, weil er nicht fußläufig über den Bosporus kommen kann. Schließlich schafft er es in Istanbul sogar bis ins Vorzimmer des Bürgermeisters und hofft auf eine Sondergenehmigung, eine der Brücken als Fußgänger benutzen zu können. Als das abgelehnt wird, kommt er durch einen Zufall durch den im Bau befindlichen Eisenbahntunnel unter dem Bosporus zu Fuß auf die asiatische Seite. Warum erzähle ich dieses dramatische Affentheater? Nun, Meurisch wird nach dem Verlassen der Türkei sein Verhalten drastisch ändern und Bus, Bahn und Flugzeuge benutzen. Und letztlich wird er auch eine Menge Geld für seinen Aufenthalt in Tibet auf den Tisch legen. Was für eine Verlogenheit.
Auf andere Nebenwirkungen dieses Textes möchte ich besser nicht eingehen, etwa auf sein merkwürdiges Verhalten gegenüber Frauen, die er auf seiner Reise trifft und ausnutzt. Sympathisch ist das alles eher weniger. Auch seine naiv-philosophischen Betrachtungen spiegeln eine Eigendarstellung wider, die sein persönliches Verhalten überhaupt nicht hergibt.
Kurz gesagt: Als Studienobjekt für Psychologen eignet sich dieser Reisebericht vielleicht hervorragend. In der Sache selbst ist er eine verlogene Luftnummer. Er hätte mich vielleicht überzeugt, wenn er sein Projekt konsequent in zwei Jahren – so wie es geplant war – durchgezogen hätte. Das wäre selbst bei seiner Schamlosigkeit eine gewisse Leistung gewesen, die meinen Respekt gehabt hätte. Aber auch dazu war er nicht fähig. Vielmehr dauerte die ganze Unternehmung mehr als doppelt so lange, weil er sich zwischendurch einfach immer wieder gehen lassen hat. Natürlich klingt das im Buch anders: Er wollte Land und Leute kennenlernen.
Früher sind angehende Handwerker auch auf lange Reisen gegangen, haben unterwegs gearbeitet und bei Meistern in der Fremde gelernt. Meurisch dagegen hat sich nur herumgetrieben und oft genug von der Arbeit anderer gelebt.
Ach ja, Tibet … Nicht dass jemand auf die Idee kommt, Meurisch wäre so eine Art Bettelmönch. Mit Tibet hatte er von Anfang an nichts, aber auch gar nichts am Hut. Außer natürlich, dass dies ein mystischer Ort und weit genug entfernt ist, um ihm Sympathien einzubringen. Und genau das hat mich von Anfang an skeptisch gemacht.