Cover des Buches Die mittelalterliche Hanse (ISBN: 9783534203772)
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Rezension zu Die mittelalterliche Hanse von Stephan Selzer

Rezension zu "Die mittelalterliche Hanse" von Stephan Selzer

von Heike110566 vor 13 Jahren

Rezension

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Heike110566vor 13 Jahren
Wie man geschichtliche Ereignisse beurteilt, ist entscheidend auch davon abhängig, unter welcher Fragestellung man diese betrachtet. In der Hanseforschung ist dies auch der Fall. Bei der früheren Hanseforschung, die bis in die 1990er Jahre datiert werden kann und von der das in der breiten Öffentlichkeit vorhandene Hansebild auch heute noch überwiegend geprägt ist, betrachtete man die Hanse vor allem über die politischen Aspekte. Die Hanse war demnach ein Städtebund, der seine Interessen auch mit militärischen Maßnahmen gegen andere durchsetzte. Erst die politische Ordnung, die auf den Hansebund zurückgeführt wurde, sollte demnach der Auslöser für den ökonomischen Erfolg gewesen sein. Der aktuelle Forschungsansatz ist ein anderer. Auch in der Hanseforschung scheint die marx'sche Erkenntnis, dass der politische Überbau die Folge der ökonomischen Verhältnisse ist, Raum gegriffen zu haben. Den heutigen Ansatz bilden die wirtschaftlichen Betrachtungen. Kann man aber einfach, anscheinend willkürlich, den Betrachtungswinkel ändern? - Natürlich kann dies nicht willkürlich erfolgen, sondern dafür müssen schon gute Gründe vorhanden sein. Und diese gibt es hier. Die Fundlage hat sich im Grunde nicht verändert, man hat nur das vorhandene Material wissenschaftlich-methodisch neu gesichtet. Und im Grunde hat man auch "betrachtet", was es nicht gibt. So paradox dies scheinen mag, hier liegt der Schlüssel für die Veränderungen in der Betrachtung der Hanse. Es gibt keinerlei Hinweise über eine formale Gründung eines Städtebundes "Hanse", keinerlei Städte-Mitgliederverezichnis, keine festen Strukturen, die darauf hindeuten, dass die mittelalterliche Hanse eine gemeinsame Vertretung für die Mitgliedsstädte hat, keine gemeinsame Kasse, kein einheitliches Militär, kein städtebindendes Statut usw hatte. Was war die Hanse aber dann? - Den aktuellen Forschungsstand zu dieser Frage stellt Stephan Selzer, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, in diesem Buch dar. Die Hanse war in erster Linie eine eher lose Interessensgemeinschaft von Fernkaufleuten, die sich, um ökonomische Vorteile zu erringen bzw zu verteidigen, zusammenschlossen. Da aber die Interessen nicht aller Fernkaufleute die gleichen waren, es kümmerte den Bergen-Fahrer ziemlich wenig, was den England-Fahrer usw betraf, gab es im Grunde mehrere Hansen, die dann in ihrer gemeinsamen Betrachtung "die Hanse" ergaben. Die Fernkaufleute, die in der Nord- und Ostsee unterwegs waren, kamen natürlich aus Städten. Da in den Privilegien die Priviligierten auch mit jeweiligen Städten genannt wurden, wurden diese Städte zu Städten die Hansekaufleute beherbergten. Der Knackpunkt also: Die Fernkaufleute wurden nicht durch ihre Städte zu Hansekaufleuten, sondern die Städte wurden zu Hansestädten, weil in ihren Mauern Fernkaufleute der Hanse lebten. Die mittelalterliche Hanse war demnach also kein Städtebund, sondern ein Interessensverbund von Personen. Die zunehmende Verquickung von Interessen der Fernkaufleute und ihren jeweiligen Heimatstädten hat eine ziemlich banale Ursache: Die Hanse-Fernkaufleute wurden durch ihre erwerbonenen Handelsprivilegien ziemlich reich. Daher bildeten sie auch die Oberschicht in ihren Städten, das Patriziat, und stellten daher auch zum größten Teil die Ratsmitglieder der Städte. Trafen sich nun die Hanse-Fernkaufleute, so trafen sich auch gleichzeitig die Stadtoberen ihrer Städte, denn der Personenkreis war derselbe. Und natürlich nutzten sie auch ihre Ratspositionen, um ihre Interessen mit Hilfe der Stadt durchzusetzen. Sie bauten die politischen Rahmenbedingungen dadurch so, dass sie vorteilhaft für ihre ökonomischen Interessen ge- und mißbraucht werden konnten. So kam es auch zB dazu, dass die Städte Soldaten aus ihrer Bevölkerung rekrutierten, die dann für die "Interessen der Hanse", was eigentlich nichts anderes als die Interessen der Fernkaufleute waren, in den Krieg, zB gegen Dänemark, zogen. Dieses anscheinende gemeinsame Vorgehen von Städten gegen andere, wurde im alten Hanseforschungsansatz als Bündnis der Städte und die Hanse damit als Städtebund mißgedeutet. Stephan Selzer geht in diesem Buch auf beide Ansätze ein. Immer wieder greift er dazu auf Quellenmaterial zurück und zeigt, dass die Hanse ein eher loser Verbund war. Er stellt aber auch immer wieder die alten Forschungsansätze dar und zeigt, wo die damaligen Interpretationsfehler der Historiker lagen. Die mittelaterliche Hanse war kein Städtebund. Erst in der frühen Neuzeit, also im 16. Jahrhundert, als die Hanse immer unbedeutender wurde, aufgrund der Verändeung der politischen Rahmenbedingungen in den Staaten Europas, versuchten einige wenige Städte die Hanse zu einem echten Städtebund zu machen. Es wurden hierarchische Strukturen und eine gemeinsame Kasse eingeführt. Aber durch die Stärkung der Position der Landesfürsten, verloren die Städte immer mehr von ihrer Unabhängigkeit und wurden letztlich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, in die Hoheit der Länder überführt. Damit war ein eigenes Auftreten der Städte als Rechtsträger gegenüber anderen Herrschern nicht mehr möglich. Außerdem waren die Interessen der Städte selber auch sehr unterschiedlich. Danzigs Interessen waren völlig andere als die von Lübeck. Das Projekt scheiterte natürlich. Die Hanse ging sang- und klanglos unter, wurde allerdings niemals für tot erklärt, also sie hat sich niemals aufgelöst. Als einen kleinen Makel dieses Buches empfinde ich, dass kaum auf die Situation der Menschen, die für die Hanse-Fernkaufleute arbeiteten, eingegangen wird. Da bleibt der Autor bei allgemeinen Aussagen, zB was die Rechtsprechung betraf. Die Lebenssituation der Fischerknechte und Schiffsbesatzungen bleibt völlig im Dunkel. Insgesamt ist dieses Buch aber eine sehr gute Darstellung der aktuellen Hanseforschung.
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