Lieber Herr Thome, Sie leben und arbeiten zurzeit in Taiwan und haben einen Roman über Chinas Vergangenheit geschrieben. Wechseln Sie Ihren Wohnsitz um näher am Ort des Geschehens zu sein oder ist es Zufall?
Für den vorigen Roman bin ich eigens für anderthalb Jahre nach Lissabon gezogen, aber in diesem Fall war kein Umzug erforderlich. Taiwan ist nach nunmehr zehn Jahren meine zweite Heimat, und Taipeh war der richtige Ort, um „Gott der Barbaren“ zu schreiben, auch weil ich von dort aus leichter meine Recherchereisen nach China unternehmen konnte.
Nach der Lektüre von „Grenzgang“ und „Fliehkräfte“ nahm man an, dass Sie ein gnadenloser Chronist der zeitgenössischen Gesellschaft in der Bundesrepublik seien. Wie kommt es nun, dass Sie sich einem historischen Thema zuwenden?
Ich wollte schon lange über China schreiben und habe nach einem Stoff gesucht, der mich richtig packt. Dann stieß ich auf ein Buch über die Taiping Rebellion (Stephen R. Platt: „Autumn in the Heavenly Kingdom“) und wusste: das ist es. Beim Schreiben habe ich mir immer gesagt, es wird ein historischer Gegenwartsroman, also ein Buch, das in der Vergangenheit spielt, aber (auch) auf die Gegenwart zielt. Diese Aktualität des Stoffes war es ja, was mich so daran fasziniert hat.
China ist nicht unbedingt bekannt für seine Offenheit. Wie schwierig ist in diesem Fall die Recherche vor Ort? Gibt es Reaktionen aus dem Land? Wird es dort auch veröffentlicht oder ist es vorgesehen?
China wird zurzeit immer unfreier, das stimmt, aber bei der Recherche habe ich davon nichts gespürt. Ich war als Tourist im Land unterwegs, einmal auch als Gast einer Universität, und die Museen und Gedenkstätten, die sich der Taiping Rebellion widmen, sind für jedermann frei zugänglich. Es handelt sich ja nicht um ein Geheimthema. Allerdings hat die Kommunistische Partei ein ganz bestimmtes Bild der damaligen Ereignisse, und von dem weicht meine Deutung ab. Die Taiping Rebellen hatten zwar viele progressive Ideen, aber sie waren auch religiöse Fanatiker und haben große Zerstörungen angerichtet. Es ist nicht leicht, das auf den Begriff zu bringen, aber es ist wichtig, diese dunkle Seiten nicht zu verschweigen zumal sie den Menschen in China nur zu bewusst ist.
Wussten Sie schon beim Sinologiestudium, dass Sie einen Roman über China schreiben wollten? Wem würden Sie raten, ein Studium in Sinologie zu beginnen? Hat Ihr Studium Sie bereichert?
Erstens: nein, wusste ich nicht. Zweitens: nicht unbedingt. Studieren Sie lieber ein Fach, das eine richtige Methode hat und eignen Sie sich die Sprachkenntnisse auf anderem Wege an, am besten in China oder Taiwan. Ich habe Sinologie im Nebenfach studiert und kann nicht behaupten, dass ich besonders viel gelernt habe. Sehr bereichert haben mich aber die Aufenthalte im Land und überhaupt der Versuch, mir auf dieses Land und seine Kultur einen Reim zu machen (das war drittens) – ein Versuch, der übrigens noch andauert.
Der Taiping-Aufstand war sehr blutig und kostete unfassbar viele Menschen das Leben. Wissen Sie, ob dieser Bürgerkrieg in China noch thematisiert wird? Dieser Krieg ist weniger bekannt als andere – wie kamen Sie auf dieses historische Ereignis?
Er wird thematisiert (wenn auch nicht so oft wie die Opiumkriege), aber meistens sehr einseitig. Die Taiping Rebellen gelten als Helden und Vorreiter der kommunistischen ‚Befreiung‘ hundert Jahre später. Ihr religiöser Fanatismus und ihr zerstörerisches Wirken werden oft übergangen, aber es gibt inzwischen auch in China historische Studien, die dieses Bild korrigieren und ergänzen. Wann ich zum ersten Mal von der Rebellion gehört habe, weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall noch als Student. 1997 oder 98 habe ich das Buch von Jonathan Spence „God’s Chinese Son“ gelesen, das ich sehr empfehlen kann.
Religion (zumindest die christliche Religion bzw. Abwandlungen dieser) scheint in Ihrem Roman eine große Rolle zu spielen. Wie stehen Sie selbst zu diesem Thema? Sind Sie ein religiöser Mensch? War es Ihnen beim Schreiben ein Anliegen, mit Ihrem Buch generell vor religiösem Fanatismus zu warnen?
Nein, ich bin nicht religiös, aber ich nehme Religionen ernst. Ob man heute noch vor religiösen Fanatismus warnen muss, weiß ich nicht; ich wollte eher zeigen, dass er keineswegs nur ein Phänomen des Islam ist und dass er bevorzugt dort gedeiht, wo bestimmte Bedingungen herrschen, z.B. Armut, soziale Konflikte etc. Alle monotheistischen Religionen haben die Tendenz, die Welt in Gläubige und Ungläubige zu teilen, und wenn die erwähnten Faktoren hinzukommen, wird darauf schnell die gefühlte Berechtigung, gewaltsam gegen die Ungläubigen vorzugehen. Beispiele finden sich in der christlichen Geschichte in Hülle und Fülle.
Irgendwann muss ja der Gedanke entstanden sein, einen Roman zum Taiping-Aufstand zu schreiben und ihn so zu konzipieren, dass alle Seiten beleuchtet werden. Was war zuerst da, der Wunsch, über bestimmte Persönlichkeiten zu schreiben, oder die Idee, anhand eines Romans zu zeigen, dass die Bildung von „Gottesstaaten“ kein rein muslimisches Phänomen ist? Oder doch der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, die ja heute wie damals alles für barbarisch hält, was nicht ihrer Sichtweise entspricht?
Alle von Ihnen erwähnten Faktoren waren wichtig: Das Ereignis als solches, die Rolle von historischen Figuren wie Lord Elgin und Zeng Guofan, die Frage nach religiösem Fanatismus, die Parallelen zur Gegenwart… Im Rückblick kann ich nicht mehr rekonstruieren, wie sich das alles in meinem Kopf aufgebaut hat. Der erste Anstoß war 2012 ein Buch über die Taiping Rebellion, aber dann hat es noch zweieinhalb Jahre gedauert, bevor ich mit der Arbeit begonnen habe. Was am Ende herauskommen würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, es war im Vergleich zu früheren Büchern ein sehr ergebnisoffener Prozess.
Sie leben aktuell in Taipeh, und das als ‚offensichtlich Fremder‘ in einer anderen Kultur. Wie begegnet man Ihnen in China fernab der touristischen Höflichkeit? Gibt es einen interkulturellen Graben, den Sie täglich überwinden müssen? Sind die Chinesen offener / toleranter als wir? Oder ist die Millionenstadt Taipeh so multikulturell, dass Unterschiede irrelevant sind?
Zunächst mal muss ich betonen: ich lebe nicht in China, sondern in Taiwan. Dort sind die Menschen sehr freundlich, oft auch sehr neugierig auf Ausländer. Ausländerfeindlichkeit habe ich noch nie erlebt, das hat aber auch mit meiner deutschen / westlichen Herkunft zu tun. Gegenüber Menschen aus ärmeren Ländern Südostasiens, die in Taiwan arbeiten, gibt es sehr wohl gewissen Ressentiments. Insgesamt leben in Taiwan – und das trifft auf China ebenso zu – nur sehr weniger Auslänger. Angst vor Überfremdung kann da wirklich nicht aufkommen. Auch Flüchtlinge gibt es nicht, es ist also eine grundlegend andere Ausgangssituation als bei uns. Mein Lebensgefühl ist so, dass ich zu einer winzigen, wohlwollend betrachteten Minderheit gehöre. Dass ich die Landessprache beherrsche, erleichtert das Miteinander zusätzlich und wird mir hoch angerechnet. In Deutschland erwartet man von Ausländern, Deutsch zu sprechen, in Taiwan sind die Menschen jedes Mal positiv überrascht. Gefühlt wurde ich diesbezüglich schon ungefähr eine Million Mal gelobt.