Um das herauszufinden, müssen wir unsere Geschichte allerdings selber erzählen. Bisher haben es immer andere für uns getan. Das heißt, sie haben ihre Geschichte erzählt, wir kamen halt darin vor. (S. 335)
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine schielt der Westen auch immer besorgter in Richtung China: Wird das Reich der Mitte nun doch früher als gedacht Taiwan angreifen, um die Inselrepublik endlich wieder mit dem Festland zu „vereinigen“? Doch was wissen wir jenseits Chinas Machtanspruch über die Insel im Westpazifik? Eigentlich so gut wie nichts. Wer dieser Aussage zustimmen würde, dem rate ich dringend zur Lektüre von Stephan Thomes Roman Pflaumenregen. Selten habe ich durch das Lesen eines Buches so viel über ein Land und seine Historie gelernt! Und die Idee von „einem China“ kommt einem nach Beendigung der circa 520 Seiten wie die reine politische Illusion vor, die mit der historischen Realität kaum etwas zu tun hat…
Stephan Thome beginnt seine Geschichte während des zweiten Weltkrieges und wartet direkt mit der ersten Überraschung für die unwissenden westlichen Leser:innen auf: Taiwan ist zu diesem Zeitpunkt seit fast 50 Jahren eine japanische Kolonie, Japaner, Taiwaner und indigene Völker (die eigentlichen Taiwaner) teilen sich die Insel, wobei die Kolonialherren eine strenge Politik der Assimilation verfolgen: Man spricht japanisch, Kinder tragen japanische Namen, Japan gilt als „Mutterland“. Mit der Niederlange Japans nach dem zweiten Weltkrieg fällt Taiwan an die Republik China zurück. Von einem Tag auf den anderen werden die einzigen Herrscher zu Untermenschen erklärt, die Taiwaner müssen eine neue Sprache (Chinesisch) lernen und sollen einsehen, dass die letzten Jahrzehnte eine Fehler waren. Festlandchinesen kommen auf die Insel – in Großer Zahl vor allem mit Beginn des Bürgerkrieges und dem endgültigen Sieg der Kommunisten. Die einstige Regierung der Volksrepublik herrscht nun nur noch über ein Fleckchen Land, das etwa so groß ist wie Baden-Württemberg.
Das klingt nun nach viel und es sind tatsächlich eine Vielzahl von historischen Themen, die Thome hier behandelt: Kolonialismus, Krieg, politische Unruhen und Massaker, der Aufbau eines Polizeistaates, Bespitzelung etc. Immer wieder muss man bei der Lektüre innehalten und sich sortieren: Die Festlandchinesen betrachten Taiwan zwar als zu China zugehörig, halten sie aber auch für schwach und korrupt, weil sie sich jahrelang den Japaner gebeugt haben? Die Taiwaner halten die Festlandchinesen für kulturschwach und vermissen die japanische Lebensweise, die für sie trotz allem Modernität bedeutete? Das soll ein Volk sein? Das Lesen von Wikipedia-Artikeln wird während des Romans eine Parallel-Lektüre werden, so viel kann versichert werden.
Und doch schafft es Thome, dass der Roman nie schwer wird. Denn er erzählt Taiwans Geschichte als Familiengeschichte und begleitet die kleine Umeko (später Ching-mei) durch das Erwachsenwerden in einem Land, das seine Zugehörigkeit und seine politische Staatsform mehr als einmal wechselt. Anhand ihrer Geschichte, aber auch der ihres Vaters, einem Taiwaner im Dienste einer japanischen Minenfirma, und ihres Bruders, einem Baseballspieler, werden die historischen Fakten atmosphärisch und durchaus spannend erzählt. Immer wieder bricht auch ein Gegenwartsstrang ein, in dem Ching-meis Sohn Harry und ihre Enkelin Julie eine zentrale Rolle spielen und die Thematik um die Demokratiebewegung, aber um auch so elementare Überlegungen wie Heimat, Zugehörigkeit, kulturelles Erbe etc. erweitert.
Erzähltechnisch kann der Roman nicht als hundertprozentig gelungen beschrieben werden – vor allem wenn man Thomes Gegenwartsromane wie Fliehkräfte und Gegenspiel kennt. Zu langatmig ist die Geschichte an einigen Stellen, zu rasch an anderen – besonders zum Ende hin. Der Gegenwartsstrang ist leider weniger relevant, als der Geschichte guttun würde, bringt er doch Dynamik und Erkenntnisse in das Erzählte; der Fokus auf die Vergangenheit bedeutet jedoch auf vielen der über 500 Seiten auch einen Fokus auf Stillstand.
Nichtsdestotrotz kann über diese Schwächen großzügig hinweggesehen werden, zu lehrreich und zu erweckend ist Pflaumenregen in seiner Gesamtheit einfach. Ein Roman, der eine wichtige politische Landschaft in das Bewusstsein der deutschen Leserschaft bringt und dabei auch zu unterhalten weiß. Dafür eine absolute Leseempfehlung bei 4,5 Sternen.