Rezension zu "Schock" von Stephane Colman
In den Comics sind sie nach wie vor vorhanden, die klassischen Bösewichte, die lebenslangen Erzfeinde, angetrieben von einer erstaunlichen, kreativen kriminellen Energie. Sie sind die ständig wiederkehrenden Gegenspieler, die stets aufs Neue die Welt und die Menschheit mit ihren ausgeklügelten Machenschaften ins Chaos stürzen wollen.
Der diabolische Schock aus der Serie Harry und Platte (im Französischen Tif et Tondu) ist einer dieser vielfältigen Erscheinungen der dunklen Seite der Menschheit. Sein charismatisches Äusseres – die schlanke Erscheinung im makellos schwarzen Smoking, im Kontrast dazu der gleissend weisse Ritterhelm mit dem markanten Visier und als ausgefallenes Accessoire der schmalstielige Zigarettenhalter – prägen sich schon nach der ersten Lektürebegegnung ein. Noch mehr als die diversen Helden benötigen gerade Comicschurken, die sich einen Namen machen wollen, unverkennbare Merkmale. Herr Schock ist nicht nur darin ein Meister seines Fachs.
Es verwundert darum nicht, dass dieser Erzrivale der etwas tolpatschig anmutenden Journalisten Harry und Platte nun seinen eigenen Werdegang als Comicerzählung verwirklicht sieht. Die ersten Abenteuer des sympathischen Harry und Platte stammen aus den Fünfzigern und so beginnt denn die Lebensgeschichte des Herrn Schock, wie er zum unerbittlichen, an Grössenwahn leidenden Verbrecher wurde, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.
Stéphane Colman (Szenario) und Eric Maltaite (Zeichnungen) halten nicht zurück mit familiären Tiefschlägen: der Junge, Eden, in La Grande Guerre gewaltsam gezeugt und ohne Vater aufgewachsen, zieht mit seiner mittellosen Mutter auf das englische Gut Knightgrave und erlebt dort die wenigen glücklichen Tage seines Lebens. Schnell wird der aufgeschlossene Knabe der Liebling des Gutsbesitzers. Zzum Leidwesen der eifersüchtigen Angestellten und des eitlen Juniors. Als Dieb denunziert landet er in einer sadistischen Erziehungsanstalt und muss darüber hinaus den Tod seiner geliebten Mutter verkraften. Eden gelingt die Flucht aus der Anstalt und Schritt für Schritt formen sich in seinem Kopf die Rachepläne für die erlittenen Erniedrigungen.
Die biografischen Episoden, die sich hier wie eine geradlinige Erzählung lesen, werden im ersten des auf zwei Bände angelegten Comic in ausgeklügelt gestreuten Rückblenden ganz achronologisch aufgefächert. Herr Schock und seine Verbrecherorganisation Die weisse Hand befinden sich in voller Blüte, da beschliesst Schock, seinen langgehegten Rachefeldzug anzutreten. Die einfühlsamen, ja beinahe mitleiderregenden Erinnerungsanfälle, die Schock durch die Begegnung mit den altbekannten Charakteren oder Orten durchlebt, stehen in starkem Widerspruch zur eiskalten Gewalt und lebensverachtenden Brutalität, die Schock und seine Männer bei der Umsetzung ihrer Machenschaften an den Tag legen.
Aus diesem disparaten Verhältnis aus berührender Einfühlung und tiefster Abneigung gelingt es Maltaite und Colman tatsächlich, eine schillernde und krankhaft verstörte Verbrecherpersönlichkeit auferstehen zu lassen. In satten, aber dunkel gehaltenen Farben und mit dem überzeugenden, modernen Strich der frankobelgischen Schule liegt hier ein ungemein lesenswerter Comic vor, der Lust macht, auch die alten, noch unbeschwerten Auseinandersetzungen zwischen Harry und Platte und ihrem ewigen Widersacher, ihrer Nemesis Schock, erneut zu lesen. Im Salleck Verlag ist das dank der neu erscheinenden Sammelbände ohne weiteres möglich.
>Stéphane Colman; Eric Maltaite: Schock Bd.1 - Die Geister von Knightgrave; Salleck 2014.