Für die einen ist er „der Zigeuner, der wilde Mann, der wilde Urenkel der wilden Puszta, der Braune, der Halbwilde, der weiße Neger, der seltsame Derwisch, der schwarze Wuschelkopf, der Abkömmling der Nomaden, der Zigan“ (S. 125). Für die meisten ist Johann Rukelie Trollmann einfach nur „Troll, Troll, Troll“, ein Zigeuner, meinetwegen, aber vor allem ein begnadeter und außergewöhnlicher Boxer, der es in ihren Augen verdient hat, endlich um die Deutsche Meisterschaft zu boxen. Im Zuge der Säuberungen im Verband Deutscher Faustkämpfer bekommt der Sinto paradoxerweise seine Chance: Da jüdische Boxer, Trainer und Promoter abgesetzt werden, darf Trollmann um den Titel „Deutscher Meister“ kämpfen. Doch die Zulassung zum Kampf bedeutet noch lange keine Unterstützung durch die gleichgeschalteten Funktionäre und Presse: Und so muss Rukelie nicht nur gegen seinen Gegner im Ring kämpfen, sondern auch gegen die jenseits des Kampfplatzes…
Im Ring hatte Trollmann die Geschichte auf seiner Seite, aber außerhalb der Seile bekämpfte ihn die Gegenwart, in der die Dümmeren sich aufmachten, über Schwächere zu siegen. (S. 265)
Stephanie Bart stellt das historisch bezeugte Schicksal des Sinto-Boxers Johann Rukelie Trollmann in den Mittelpunkt ihres Romans Deutscher Meister und verdichtet es zu einer Geschichte, die – anhand des Boxsports und der Institution des Verbands Deutscher Faustkämpfer – die Methoden der Machtergreifung und der Gleichschaltung durch die Nazis aufzeigt und im Kontext analysiert. Dabei geht die Autorin in mehrerer Hinsicht eigene Wege: Zum einen ist ihr literarischer Held ein späteres Opfer des Porajmos', über den in der deutschsprachigen Literatur eher weniger geschrieben wird; zum anderen verengt sie ihre Geschichte fast gänzlich auf die Welt des Boxsports und damit auf eine Welt, die für einige Leser anspruchsvoller Belletristik wohl eher fremd sein mag (mich eingeschlossen!). Auch die Fokussierung auf nur wenige Monate im Jahr 1933 und damit das komplette Aussparen des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts erscheint eher ungewöhnlich: Bart konzentriert sich völlig auf den Anfang des grausamen Ende, auf die Gedankenwelt, die den Boden für die späteren menschenverachtenden Taten bildet und auf die Art und Weise, wie oppositionelle Stimmen stumm gemacht und zögernde Zweifler auf Linie gebracht wurden.
Deutscher Meister weicht also schon auf inhaltlicher Ebene von dem ab, was man in den Regalen großer Buchhandlungen zum Thema Nationalsozialismus findet. Doch was den Roman eindeutig aus der Menge der Bücher mit ähnlicher Thematik hervorstechen lässt, ist sein eigenwilliger Stil: Bart erzählt das Schicksal Trollmanns sehr distanziert und nüchtern; Nähe zu ihren Figuren lässt sich kaum zu, verschanzt sie doch Protagonisten wie Antagonisten hinter Vokabular aus dem Boxsport und den Funktionen, die die einzelnen Charaktere in ihrem Roman einnehmen. Hinzu kommt, dass sie immer wieder auf eine collagenartige Erzählweise zurückgreift: Szenen gehen fließend ineinander über, Figuren streifen sich und setzen dadurch neu Schwerpunkte, Stimmen kommen zu Wort, die danach nie wieder erklingen.
Ich gestehe, dass mich alle Punkte – die inhaltlichen, vor allem aber die stilistischen – am Anfang sehr auf Distanz gehalten haben und ich mich nach 50 Seiten schon darauf einstellte, mich durch den Rest des Romans zu quälen, um ihn dann schnellstmöglich zu vergessen. Doch überraschenderweise kam es anders, was ich eindeutig Barts erzählerischem Talent zuschreibe, dem man aber die Zeit geben muss, sich zu entfalten. Je mehr Seiten ich las, desto passender und reizvoller erschien mir der von ihr gewählte Stil: Er ermöglicht subtile Ironie, das Aufdecken der kruden Ideologie der Nationalsozialisten, die lächerlich wirkende Taten hervorrief. Die Erzählung als Collage zeichnet das bunte Panorama Berlins, das gleichermaßen von Überzeugungstäter und Oppositionellen, Gewinnern und Verlierern, Mitläufern und Widerständlern geprägt war. Der Roman gewinnt so ungemein an Tiefe und schafft es die spezielle Atmosphäre – vor allem die der Boxwelt – an den Leser zu bringen. Gerade letzteres stellt für mich Barts größte Leistung dar: Sie schafft es, ein Gefühl für das Boxen, seine Regeln, aber auch seine Bedeutung für Fans und Athleten zu transportieren – auch wenn die detaillierten Beschreibungen, zu denen sie sich öfters hinreißen lässt, sicherlich nur für wahre Sportbegeisterte ein Vergnügen ist.
Deutscher Meister ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss und das langsam vom Leser Besitzt ergreift, dann jedoch mit voller Wucht. Ein Roman, der zu einem außergewöhnlichen Schatz im Bücherregal werden kann – wenn man ihn denn lässt. Ich vergebe 4 Sterne und rufe dazu auf, sich diesem Roman, wie ein Boxer, mit Mut und Ausdauer zu stellen.