Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion und im Ostblock hat das Jahr 1917 die nahezu mythische Bedeutung verloren, die ihm einst zugeschrieben wurde. Galt die Russische Revolution bis 1989/1991 als Auftakt einer neuen Epoche der Weltgeschichte, als Geburtsstunde einer vermeintlich überlegenen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, so wird sie heute eher als Beginn eines verhängnisvollen Irrweges betrachtet. Der Kommunismus sowjetischer Prägung ist gescheitert. Seit zweieinhalb Jahrzehnten ist er ein abgeschlossenes historisches Kapitel. Dennoch hat die Russische Revolution nichts von ihrer Anziehungskraft verloren, wie man an den zahlreichen Neuerscheinungen sehen kann, die derzeit auf den Buchmarkt kommen. Das Buch des britischen Historikers Stephen Smith ist nach Umfang und Inhalt zu den anspruchsvolleren Darstellungen zu rechnen. Es ist nicht für eine flüchtige Beschäftigung mit der russischen Geschichte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gedacht, sondern richtet sich an Leser, die sich ernsthaft und eingehend mit Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Russischen Revolution befassen wollen. Smith hat einen großzügig bemessenen chronologischen Rahmen gewählt: Er schlägt einen Bogen von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) und dem Beginn der Stalinschen "Revolution von oben" (forcierte Industrialisierung, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft) 1928/29. Diese Langzeitperspektive ermöglicht es Smith, sowohl Ursprünge und Ursachen als auch Folgen und Ergebnisse der Russischen Revolution in den Blick zu nehmen. Das Buch kreist um die Frage, wie sich Russland durch die Revolution veränderte und inwieweit die sozioökonomische Ordnung, die in den 1930er Jahren unter Stalin Gestalt annahm, den Zielen und Vorstellungen entsprach, die das russische Volk 1917 beflügelt und auf die Straßen gebracht hatten. Smith betont eine altbekannte Binsenweisheit: Revolutionen lassen sich nicht bewusst "auslösen" und "steuern", und sie haben unvorhergesehene und nicht beabsichtigte Folgen. Im Gegensatz zu früheren Autoren trägt Smith der Tatsache Rechnung, dass Russland und die Sowjetunion Vielvölkerreiche waren. Er behandelt nicht nur das Geschehen im russischen Kernland, sondern bezieht auch die nichtrussische Peripherie in seine Darstellung ein, von Finnland über das Baltikum und Polen bis hin zum Kaukasus und Mittelasien.
In den beiden ersten Kapiteln analysiert Smith die Krise des späten Zarenreiches und das Ende der Monarchie während des Ersten Weltkrieges. Smith arbeitet die politischen und sozialen Probleme heraus, unter denen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts litt, und er stellt die wichtigsten Kräfte und Gruppen vor, die eine grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse anstrebten. Die erste Russische Revolution von 1905/06 führte nicht zu dem politischen Neuanfang, den viele Klassen und Schichten erhofft hatten, vom liberalen Bürgertum über die Arbeiter bis hin zu den chronisch unzufriedenen Bauern. Der Weltkrieg verschärfte die allgemeine Krise des Reiches so sehr, dass die zarische Herrschaft Anfang 1917 gleichsam über Nacht zusammenbrach. Das revolutionäre Geschehen zwischen Februar und Oktober 1917, von der Abdankung des Zaren und der Ausrufung der Republik bis zur Machtergreifung der Bolschewiki, steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Hundertfach wurde die Geschichte des Revolutionsjahres 1917 bereits erzählt, und Smith gewinnt dieser Geschichte keine neuen oder originellen Facetten ab. Die Ziele und Vorstellungen der einzelnen politischen Parteien und sozialen Gruppen waren widersprüchlich und unvereinbar. Darin bestand die große Tragik der Russischen Revolution. Die Provisorische Regierung verlor das Vertrauen des Volkes, weil sie den Krieg fortsetzte. Die Kriegsmüdigkeit und Verbitterung des Volkes spielte den Bolschewiki, dem radikalen Flügel der russischen Sozialdemokratie, in die Hände. Lenin war entschlossen, auf die bürgerlich-demokratische Revolution vom Februar möglichst bald eine proletarisch-sozialistische Revolution folgen zu lassen. Die Bolschewiki kamen in einer Situation an die Macht, die verfahrener kaum sein konnte: Die Armee war in Auflösung begriffen, die Wirtschaft lag darnieder, das Imperium zerfiel, die Bauern eigneten sich das Land der Gutsbesitzer an. Vor dieser verhängnisvollen Konstellation, einer Revolution mitten im Krieg, hatten hellsichtige Zeitgenossen wie Jean Jaurès und Karl Kautsky stets gewarnt. Unter den Bedingungen von Chaos und Anarchie wurden die – ohnehin diffusen und unausgegorenen – Pläne der Bolschewiki für eine geordnete sozialistische Umgestaltung alsbald Makulatur. Der Weg in den Bürgerkrieg war vorprogrammiert, weil die Bolschewiki schon frühzeitig ein Machtmonopol für sich beanspruchten und alle gegnerischen Kräfte vom politischen Prozess ausschließen wollten.
Den Bürgerkrieg (1918-1920) und den sogenannten Kriegskommunismus behandelt Smith in den Kapiteln 4 und 5. Er schildert, wie sich die Bolschewiki gegen eine Welt von Feinden behaupteten und welchen Preis ihr Sieg hatte. Gewalt und Terror wurden zu unverzichtbaren Herrschaftsinstrumenten, und die Diktatur der Arbeiterklasse, die die Bolschewiki 1917 hatten errichten wollen, degenerierte zur Diktatur der Partei über die gesamte Gesellschaft. Die vollständige wirtschaftliche Erschöpfung des Landes zwang Lenin Anfang 1921 zum Umsteuern, zu einem taktischen Rückzug. In zwei Kapiteln analysiert Smith die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik (1921-1928/29). Diese beiden Kapitel sind von besonderem Wert, denn die NÖP, jene Phase zwischen der Revolutions- und Bürgerkriegszeit und dem Stalinismus der 1930er Jahre, findet gemeinhin zu wenig Beachtung und wird in vielen Büchern zur frühen Sowjetgeschichte eher beiläufig behandelt. Die NÖP war ein Kompromiss, der viele Kommunisten mit Unbehagen erfüllte: Zwar behielt die Partei ihr Machtmonopol, doch in der Wirtschaft wurden kapitalistische Elemente wieder zugelassen. Lenins berühmter Spruch "Aus dem Russland der NÖP wird das sozialistische Russland hervorgehen" warf heikle Fragen auf. Wie würde sich dieser Prozess konkret vollziehen, und wie lange würde er dauern? Die Bolschewiki wollten das rückständige Russland einer umfassenden sozioökonomischen Modernisierung unterziehen. Bot die NÖP den geeigneten Rahmen für den ersehnten "Großen Umbruch" – oder war sie eine Sackgasse? Stalin avancierte zum Wortführer jener Teile der Partei, die einen zweiten revolutionären Anlauf forderten, um dem Sozialismus zum Durchbruch zu verhelfen. Erst Stalins "Revolution von oben" führte zum endgültigen Bruch mit dem alten Russland. Unter Opfern und Anstrengungen, die heute kaum noch vorstellbar sind, und unter rücksichtslosem Einsatz aller staatlichen Machtmittel entstand in den 1930er Jahren eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die Stalin und seine Anhänger als Sozialismus verstanden wissen wollten, als Verwirklichung jener Ideale, für die die europäische Arbeiterbewegung über Generationen hinweg gekämpft hatte. In einem gedankenreichen Epilog setzt sich Smith mit der Frage auseinander, in welchem Verhältnis das Jahr 1917 und das Sowjetsystem der 1930er Jahre zueinander stehen. War Stalin der "Vollender" oder der "Totengräber" der Russischen Revolution?
Smiths Antwort auf diese Frage wird Kenner der Materie nicht überraschen. Unter Stalin zeigte die Sowjetunion ein eigenartiges Janus-Gesicht, hier stürmischer wirtschaftlich-technologischer Fortschritt, dort politische und soziale Regression. Die sowjetische Gesellschaft der 1930er Jahre hatte nicht mehr viel gemein mit der russischen Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkrieges; sie war primitiver geworden. Wirtschaftsbürgertum und landbesitzender Adel waren verschwunden. Die kritische Intelligenz, einst Stachel im Fleisch des Zarismus, war gezähmt und forderte das neue Regime nicht heraus. Die Arbeiter waren entpolitisiert. Die Bauern waren die großen Verlierer des "Großen Umbruchs"; sie erlebten die Zwangskollektivierung als Absturz in die "zweite Leibeigenschaft". Von den emanzipatorischen Visionen des Jahres 1917, von der politischen Mobilisierung der Massen war wenig übrig geblieben. In der Sowjetunion herrschte nicht das werktätige Volk; es herrschte erst eine allmächtige Partei und schließlich ein allmächtiger Diktator. Smith verweist auf einige Parallelen zwischen der zarischen Autokratie und dem Stalinismus: Die erdrückende Dominanz des Staates, die Schwäche der Zivilgesellschaft, die Personalisierung der Macht, der straffe Zentralismus. In dem von Stalin geschaffenen System gab es nichts, was nach westlichem Verständnis als "Politik" hätte bezeichnet werden können. Die Gesellschaft war apolitisch geworden. Dieses Erbe ist noch im heutigen Russland wirkmächtig. Smith legt großen Wert auf die Feststellung, dass der Stalinismus nicht allein Produkt der marxistischen Ideologie gewesen sei. Die Ideologie war wichtig, aber genauso wichtig für den Verlauf der russischen Geschichte ab Oktober 1917 waren die Zeitumstände und die Zwänge der Geopolitik. Revolution und Bürgerkrieg stellten die Bolschewiki vor Probleme und Entscheidungen, die sie nicht vorhergesehen hatten. Lenin und Stalin erkannten, dass sie die historische Mission der letzten Zaren fortsetzen mussten: Das rückständige Riesenreich musste modernisiert werden, wenn es nicht zum Spielball der westlichen Staaten herabsinken sollte. Stalin und seine Nachfolger verringerten den Entwicklungsrückstand gegenüber dem Westen, vermochten ihn aber nicht vollständig zu überwinden. Jahrzehntelang gaben sich die Sowjetbürger und auch manche westliche Beobachter der Illusion hin, die Sowjetunion verkörpere ein System, das dem Kapitalismus und der parlamentarischen Demokratie überlegen sei. Heute wissen wir es besser. Wie Stephen Smith anschaulich zeigt, öffnete sich 1917 nicht die Tür ins lichte kommunistische Paradies, weder für Russland noch für die Welt. In Russland begann 1917 ein Irrweg, der welthistorisch einmalig und beispiellos ist.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2017 bei Amazon gepostet)