Rezension
traumwaldvor 12 Jahren
Es ist ein Unterschied ob man auf Carrie trifft, wenn man jemanden in der Nähe weiß, oder wenn man alleine ist. Es war Nacht. In meinem ehemaligen 1-Zimmer-Appartment im Erdgeschoss stand das Fenster auf Kipp und ich las die letzten hundert Seiten aus Carrie. Mit einem zischenden – nein – mit einem fegenden Geräusch wehte der Wind die Vorhänge so zur Seite, dass ich auf die Terrasse blicken konnte. Dunkelheit! Draußen das Rascheln der Bäume und Blätter; der Wind, selbst das leise Knistern im Unterholz des Gebüschs war lauter denn je zu vernehmen. Neben diesen äußeren Einflüssen war es still, ganz still. Hätte das Telefon geklingelt, wäre ich zusammengezuckt. War es Angst? Ein eiskalter Schauer durchzuckte mich, ich erinnere mich genau. ---- Carrie! Wer das Buch nicht kennt, kennt den Film. Die Verfilmung kann ich mir übrigens bis zum heutigen Tag nur dann ansehen, wenn ich nicht allein bin. So geht es mir allerdings bei vielen Horrorfilmen. Geht es euch auch so, dass ihr besonders die blutigen Geschichten in Büchern besser verdauen könnt, als in der filmischen Umsetzung? ---- Klappentext: Als Dreijährige lässt sie einen Steinregen auf ihr Elternhaus niederregnen, weil ihre Mutter ihr in einem Anfall von religiösem Wahn nach dem Leben trachtet. Als Sechzehnjährige muss sie einen Augenblick tiefster Demütigung erleben. Schon immer von ihren Mitschülern wegen ihrer scheuen zurückhaltenden Art gehänselt, wird sie auf dem Abschlussball der Schule das Opfer eines bösen Streichs. Schmerz, Enttäuschung, Wut treiben Carrie zum Äußersten, die beseelt und besessen ist von einer unheimlichen Gabe: Mit schierer Kraft ihres Willens entfesselt sie ein Inferno, gegen das die Hölle ein lieblicher Garten Eden ist. Das ist Carrie – beseelt, besessen von einer unheimlichen Gabe mit ungeheurer Tragweite und furchtbaren Folgen. ---- Meinung: Ungefähr 15 Jahre später: Die zweite Begegnung mit Carrie fühlt sich jetzt (während des Lesens) definitiv anders an – denn ich bin nicht allein und ich bin älter. Aber ein Gefühl bleibt: Die Außenseiterin Carrie tut mir leid! Wie ihre Schüler und ganz Chamberlaine mit den Finger auf sie zeigen, sie verspotten und höhnisch auslachen, wie Mrs. Margarete White mit dem Schlachtmesser in der Hand das kleine Mädchen in die Kammer scheucht und sie mit befremdlicher Stimme hysterisch anschreit. Ungefähr so: “Carrieeee bete, bete, wasch dich rein. Mach dich von den Sünden frei. Bete Carrie, bete. Lass es nicht zu.” Ein Gefühl voller Finsternis und Bitterkeit – sehr beklemmend zugleich! ---- Stephen King ist legendär und auch die biographisch festgehaltene Geschichte, welche aufzeigt, wie es eigentlich zu der Veröffentlichung von “Carrie” kam. Wer oder was ihn inspiriert, ist interessant zu wissen. Ein Hoch auf Thabita King, die einst das Manuskript aus dem Papierkorb fischte und ihren Mann überredete, dieses Werk namens “Carrie” zu vollenden und an den Verlag Doubleday zu schicken. Unfassbar, denn als Stephen das Manuskript in den Müll warf, wollte er das Schreiben sogar an den Nagel hängen. Kaum auszudenken welch atemberaubende Geschichten uns entgangen wären. ---- Nach wie vor ist Mrs. Margarete White die Person, der ich nicht mal in meinen schlimmsten Albträumen begegnen wollen würde. Sehr bewegend zu lesen ist das Interview mit Estelle Horan, die die Familie White mit zittriger Stimme beschreibt und eine Geschichte erzählt, von der sie steif und fest behauptet, dass sie der Wahrheit entspricht und während ihren Ausführungen eine Zigarette nach der anderen wegdampft. Das Besondere: Jeder Charakter hat etwas ganz Eigentümliches an sich und das gefällt mir. Carrie wirkt verletzlich. Die Demütigungen die sie durch ihre “Momma”, ihre Umgebung und vor allen Dingen durch ihre Mitschüler erfährt, können nur zur Folge haben, dass es ein sehr schlimmes Ende nehmen wird. Das wird einem schnell klar. Was Carrie sich wünscht liegt auf der Hand, denn eigentlich will sie ein ganz normales Mädchen sein – anerkannt, geliebt und beliebt. Eine junge Frau! Sie will leben und auf Entdeckungsreise gehen. Sie hofft und zweifelt. Als Leser weißt du was geschehen wird, aber du hast nicht die leiseste Ahnung davon, wie es geschieht. ---- Sprache & Schreibstil: Eine Wortvielfalt, wie ich sie mir in guten Büchern wünsche und wie man es vom Meister des Horrors nicht anders gewohnt ist. Die Übersetzung meiner alten Ausgabe aus dem Lübbe Verlag ist gut, aber durch die stilistische Zeichensetzung gewöhnungsbedürftig und dadurch manchmal auch ein wenig holprig zu lesen. Der Hauptstrang wird in der personalen Erzählperspektive (der dritten Person) erzählt. Stephen King gelingt es über diese Stilrichtung, die Sichtweise der vielen unterschiedlichen Charaktere gekonnt in Szene zu setzen und miteinander zu verbinden. ---- Fazit: CARRIE ist ein Klassiker - packend und mitreißend zu lesen! Feinster Horror und wieder eine gesellschaftskritische Botschaft, die zum Nachdenken anregt.