Stephen Parker

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Autor*in von Bertolt Brecht.

Lebenslauf

Stephen Parker (geb. 1955) ist seit 2018 Professor der Germanistik an der Cardiff University und Emeritierter Professor an der University of Manchester. 2009-12 war er Research Fellow, Leverhulme Trust. Zuletzt erschien von ihm: Bertolt Brecht. Eine Biographie (2018).

Quelle: Verlag / vlb

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Cover des Buches Bertolt Brecht (ISBN: 9783518428122)

Bertolt Brecht

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Erschienen am 11.06.2018

Neue Rezensionen zu Stephen Parker

Cover des Buches Bertolt Brecht (ISBN: 9783518428122)
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Rezension zu "Bertolt Brecht" von Stephen Parker

Ehrfurcht vor dem Kinde
jamal_tuschickvor 6 Jahren

„Der Mensch wird entweder abgerichtet oder hingerichtet.“ Frank Wedekind

Die Mutter fürchtet das Kind und erkennt sein Genie als persönliche Auszeichnung. Sie stirbt dreißig Jahre lang Tag für Tag in einer Ehe ohne Liebe und in einem Haushalt ohne Freude. In der Zwischenzeit stellt eine Magd den pedantischen Gatten so zufrieden, dass er sie in seinem Testament mit zwölftausend Reichsmark bedenken wird. Für den heranwachsenden Brecht (1898-1956) ist die heimische Bigotterie ein Lehrstück über den Zustand der Welt. Er schreibt (wie er glaubt, als Letzter) Balladen und findet in Liedern der Wandervögel seinen Schlüssel zur Lyrik. Er begleitet sich auf der Gitarre.

Jahrzehnte später kommt er in Ostberlin darauf zurück. Brecht unterweist (erst im Deutschen Theater und dann im Theater am Schiffbauerdamm, der neuen und endgültigen Heimat des Berliner Ensembles) Martin Pohl (1930 – 2007) in der Kunst, Sonette aus dem Ärmel zu schütteln. Er zeigt dem Schüler sein lyrisches, von ihm selbst unter Nihilismus-Verdacht gestelltes Frühwerk und freut sich über freundliche Worte.
„Es sind doch ganz schöne Formen dabei“, findet Pohl.
„Ja, nicht“, antwortet der Meister erleichtert, „und alles lässt sich zur Gitarre singen.“

Brecht wächst in Augsburg auf. Die expressionistische Avantgarde lässt sich da einfach ignorieren. Der „Gymnasialstudent“ spielt Schach, lernt Schlachtenverläufe auswendig, zeichnet sich als Anführer aus und erkennt in Frank Wedekind ein Vorbild. Sein Biograf Stephen Parker vergleicht Brecht mit Dylan. Er schildert den Knaben als ungesunden Kauz; besorgt um sein Herz; zur Wehleidigkeit tendierend.

Parker schildert keinen angenehmen, gleichwohl einen einnehmenden Charakter. Brecht vertritt in Rollenspielen den alten Fritz und Napoleon. Er besteht bei jeder Gelegenheit auf Erstrangigkeit. Trotz seines triumphalen Wesens zeigt er sich zur Freundschaft begabt. Er gewinnt in Augsburg Freunde fürs Leben.

Brecht erscheint dem Publikum seiner Adoleszenz instabil auf eine robuste Weise. Der Künstler als junger Mann überragt sein Milieu in den Zuständen eines Hinfälligen. Auch die Agilitätsbehauptungen des Vaters werden wiederlegt. Die offensiv nervös-fragile Mutter, der scheinstarke Vater und ein physisch poröser Sohn ergänzen sich in einer Neuauffassung Brechts. Parker zerlegt das Bild vom frühreif zotigen, vorsätzlich ungepflegten, wie durch die Kanalisation gezogen stinkenden, politisch aufgeweckten, dem Berlin der Weimarer Republik rabiat entgegenkommenden Baal-Brecht. Der englische Germanist nimmt den größten Dramatiker des 20. Jahrhunderts aus dem politischen Rahmen und erklärt ihn mit seiner Anamnese. Familiäre Katastrophen bringen Brecht dahin, Distanz zu den ungehobelten Leidensäußerungen der Verwandtschaft und des Personals aufzubauen und auch Text als Distanzierungsmittel einzusetzen.

„Ich kann nichts machen gegen meine Abneigungen.“ Brecht mit zwanzig

Ausbrüche der Angehörigen stoßen ihn ab. Er kultiviert Kälte und entwickelt ein zynisches Repertoire. Der Todesnähe an der Front entgeht der Wehrpflichtige in der Münchner Etappe als Medizinstudent. Er äußert sich antisemitisch und misogyn. Frauen werden mit dem Penis „erzogen“. Nicht nur mit dem eigenen. In der nach München expedierten Augsburger Puppenkiste mischt sich brutaler Klamauk mit brutalen Rendezvous.

„Die Frauen sind dumm, ohne Rasse zumeist, ein dicker schleimiger Jude sitzt da, die Müllegger im Arm.“

Brecht zeugt ein Kind mit fehlgebildetem Anus. Ihm, dem die göttliche Kombination von Zeugungswerkzeugen und Ausscheidungsorganen ein Leben lang Kopfzerbrechen bereitet, widerfährt das Schicksal eines unkontrolliert scheißenden Sohns. Brechts Dasein vollzieht sich wie in einem Kabarett, in dem ein wahnsinniger Drehorgelspieler die Musik macht. 1922 kommt „Trommeln in der Nacht“ auf die Bühne. Herbert Ihering feiert Brecht „als die Stimme eines neuen Bewusstseins“. Karl Kraus sieht in dem Debütanten „den einzigen deutschen Autor, der heutzutage in Betracht zu kommen hat“.

Erst jetzt ist Brecht Berlin gewachsen. Helene Weigel kauft ihm einen Daimler, er will Jiu-jitsu lernen und etwas Englisch. Eine Abtreibung betreibt er aus der Ferne. Seine erste Ehefrau verliert er an Theo Lingen. Politisch ist das alles nicht. Es geht um Sex, Eifersucht und Erfolg. Ein unbeherrschter, zur üblen Nachrede aufgelegter Brecht erscheint bei Parker auf der Bühne seiner Biografie.

Der revolutionäre Faktor

Brecht ist nun berühmt genug, um von den Nazis in eine öffentliche Fehde gezogen zu werden. Es reicht nicht mehr, ein pessimistisches Menschenbild aus der Perspektive eines gesellschaftlich avancierten und seelisch verwilderten Halbbürgers von Schauspielern darstellen zu lassen. Der kranke Mann, für den die Nahrungsaufnahme zu den täglichen Verpflichtungen gehört, muss Farbe bekennen. Brecht streicht sich leninistisch an, die Gralshüter des Marxismus wissen es besser.

Brecht ist politisch so unzuverlässig wie in seinen Beziehungen zu Frauen. Seine revolutionäre Attitüde wendet sich gegen Hitler. Er ist stark im Dagegen und schwach im Dafür, soweit es um die Diktatur des Proletariats geht. Er setzt den Kommunismus zur Dynamisierung seiner dramatischen Arbeit ein. Manchmal spricht er wie ein Lehrer der Nation.

Brecht hat die Wahl zwischen Hitler und Stalin. Seine Entscheidung macht ihn zur Jahrhundertfigur. Andere Große wirken kleiner, weil sie den historischen Augenblick verpasst haben, in dem ihre Antwort auf die Machtfrage von Bedeutung war.

Es gibt keine bürgerliche Kraft gegen Hitler. Brecht gilt unter Antifaschisten als Defätist. Er und sein Kreis sind Verdächtigungen von allen Seiten ausgesetzt. Die zweite Ehefrau, Helene Weigel (1900 – 1971), erscheint für eine Rolle zu jüdisch, Nebenfrau Margarete Steffin (1908 - 1941) „kann in Berlin nicht spielen, weil sie Kommunistin ist und in Moskau nicht, weil sie Jüdin ist.“

Brecht kleidet den Satz in eine Frage, inzwischen werden deutsche Exilanten von einer sowjetischen Verhaftungswelle erfasst.

Brecht muss sich verhalten, um zu überleben. Er steht im Zentrum eines Klans, die Forderungen stellen sich wie von selbst. Ruth Berlau erweitert das private Ensemble.

Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.

Im neunten Jahr der Flucht vor Hitler

Erschöpft von den Reisen

Der Kälte und dem Hunger des winterlichen Finnland

Und dem Warten auf den Pass in einen anderen Kontinent

Starb unsere Genossin Steffin

In der roten Stadt Moskau.

Mein General ist gefallen

Mein Soldat ist gefallen

Mein Schüler ist weggegangen

Mein Lehrer ist weg

Mein Pflegling ist weg…

Seit du gestorben bist, kleine Lehrerin

Gehe ich blicklos herum, ruhelos

In einer grauen Welt staunend

Ohne Beschäftigung wie ein Entlassener.

Der Nationalsozialismus muss betrachtet werden als der Sozialismus der Kleinbürger … Ich habe den Nazismus nie für einen Auswuchs gehalten, immer für ein Ergebnis normalen Wachstums.

Gegen Hitler die Stimme erhoben zu haben, zwingt den Ex-Patrioten, Karl-May-Liebhaber, Erotomanen und süddeutsch-bohème-bourgeoisen Egoisten zu marxistischen Glaubensbekenntnissen. Jedenfalls behauptet das Parker. Ob seine Einschätzung die historische Wirklichkeit der 1930er Jahre trifft oder verfehlt, weiß ich nicht. Ich finde es plausibel, dass ein politisch intuitiv urteilender Brecht sich nach Kräften radikalisiert und in der stalinistischen Härte seinen kaltschnäuzigen Kunstbegriff gespiegelt sieht. Als er 1940 mit seinem Stamm in Amerika landet, bringt ihn der Kapitalismus von Hollywood & Broadway in Form. Weigel und Brecht kaufen in Santa Monica ein Haus. Brecht kollaboriert mit dem fürstlich abgestiegenen Feuchtwanger. Er predigt Wasser und trinkt Wein.

Er gerät in die Überwachungsmühlen. Der Kalte Krieg kündigt sich im heißen an. Die neue Zeit positioniert Brecht wie eine Spielfigur. Sein Antifaschismus ist eine außer Kurs gesetzte Währung. Er hat nur noch die kommunistischen Münzen; kann er doch in Amerika nicht bleiben, ohne sich den Bedingungen einer Existenz mit Berufsverbot auszusetzen. Ihm wird sogar die amerikanische Besatzungszone in Deutschland verboten.

Der voreilende Friede der Deutschen mit sich selbst

Brecht strebt Verhältnisse an, die ihm eine theatralische Arbeit erlauben. Er sucht ein Theater, das sich von ihm zu „einer Werkstatt der Erkenntnis“ ausbauen lässt. Er spekuliert auf eine tragende Rolle beim Wiederaufbau von Ostberlin und im Kulturkampf der Systeme. Die in der sowjetisch besetzten Zone eingesetzten deutschen Kommunisten um Ulbricht, sind nicht alle von ihm begeistert.

Brecht spinnt sein Netz von der Schweiz aus. Max Frisch führt ihn herum, Brecht ärgert der Komfort einer Arbeitersiedlung – für ihn ein „verbesserter Slum“. Die Behörden unterstellen ihm kommunistische Agententätigkeit unter Einsatz eines Senders. Während der Autor mit Peter Suhrkamp um ein regelmäßiges Auskommen feilscht.

1949 ziehen Weigel und Brecht nach Ostberlin. Sie bringen eine Inszenierung der „Mutter Courage“ in das Deutsche Theater. Weigel spielt, Brecht führt Regie. Man wirft dem Regisseur Dekadenz und Primitivismus vor und denunziert ihn als „Formalisten“. Brecht kriegt Ärger mit der Zensur. Er fährt in seinem letzten Zug nicht besser als in den Zügen davor.

Ich zitiere mich selbst im Fazit, weil ich es gerade nicht besser formulieren kann.

Ohne Hitler wäre Brecht eine Gestalt von mittlerer Größe geblieben – ein Baal und poetischer Baader für das Berliner Ballhausgeschehen. Ein Zampano der Weimarer Kulturelite. Monumental in den Einfällen, martialisch in Zuspitzungen, klein vor der Geschichte. Dreißig Jahre nach seinem Tod hätte sein Denkmal einen weitgehend Unbekannten präsentiert.

Der Faschismus lieferte Brecht die Welt als Bühne. Der große Feind machte den Dramatiker groß. Als Staatsschriftsteller der DDR fiel Brecht zurück. Leute, die ihm das Wasser nicht reichen konnten, ließen ihn an den Tränken der Macht ihre Vorrechte spüren. Brecht starb, sagt Heiner Müller, „um sich nicht länger verhalten zu müssen“. Verhalten im Sinne von taktieren, lavieren, kungeln und mauscheln. Der sozialistische Realismus verlangte, bei Stalin zu übersehen, was Hitler zum Verbrecher machte. („Gegen Hitler sein hieß, über Stalin zu schweigen.“ Heiner Müller)

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