Rezension zu "Little Dorrit" von Charles Dickens
England ca. 1826. Nach dem Tod seines Vaters kehrt der vierzigjährige Arthur Clenham nach 20 in der chinesischen Außenstelle des Hauses Clenham und Co, nach Hause zurück. Er hat es satt, er will ein eigenes Leben führen und stellt seine Mutter zur Rede. Er will wissen, was die letzten Worte seines Vaters bedeuteten und die Buchstaben DNF, die in ein Uhrentuch eingestickt sind. Ein düsteres Geheimnis scheint über der Familie zu hängen. Arthurs Mutter jedoch hüllt sich in Schweigen.
Amy Dorrit, die als Näherin für seine Mutter arbeitet erregt Arthurs Aufmerksamkeit. Warum sollte seine Mutter die kleine Dorrit als Näherin beschäftigen? Ist sie Teil des Geheimnisses? Arthur verfolgt Amy auf ihrem Heimweg und kommt so ihrer Herkunft auf die Spur. Sie wurde im Marshalsea Schuldgefängnis geboren, in dem ihr Vater bereits seit 20 Jahren einsitzt. Ist die Familie Clenham irgendwie in das Unglück der Dorrits verwickelt? Diese Frage quält Arthur und er lässt Nachforschungen anstellen.
Diese Geschichte ist sehr viel Vielschichtiger, als sie zunächst erscheint. Der Erzählstil erinnert an einige Werke von Scott, moderne Leser wohl am ehesten an die "Game of Thrones" Bücher. Viele Erzählstränge, viele Personen, viele verschiedene Handlungen und Leben, die alle miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen. Neben den Familien Dorrit und Clenham, wird auch das Schicksal der Familien Meagles, Finching, Chivery, Merdle und diverser Einzelpersonen wie Pancks, Miss Wade, Tattycoram... erzählt. Teilweise wirkt das durchaus ein wenig konstruiert und da die Personenkonstellationen soweit übersichtlich sind, macht es die Geschichte auch bis zu einem gewissen Grade vorhersehbar.
Das Buch hat seine Höhen und Tiefen. Ein Höhepunkt ist sicherlich das 10. Kapitel im ersten Teil: Das Circumlocution Office mit seinen Barnacles. Wunderbar überspitzt, voller bissiger Ironie, nimmt Dickens die britische Bürokratie aufs Korn. Und auch wie er über "Die Gesellschaft", diese ominöse, gottgleiche Wesen herzieht, der man sich zu unterwerfen hat. Heutzutage müsste man das wohl mit "Das Kapital" ersetzen. Auch die reisefreudigen Engländer werden böse aufs Korn genommen: "Still, with an unshaken confidence that the English tongue was somehow the mother tongue of the whole world, only the people were too stupid to know it, Mr Meagles harangued innkeepers in the most voluble manner, entered into loud explanations of the most complicated sort, and utterly renounced replies in the native language of the respondents, on the ground that they were 'all bosh." Bis heute sind sie immer noch genau dieser Meinung. Nur hat der Rest der Welt mittlerweile tatsächlich Englisch gelernt und diese Haltung auch noch belohnt.
In diesem Buch geht es um Schein und Sein. Gute Menschen erscheinen böse, während das wahre Böse sich in Schönheit kleidet. Um wahre Werte und den Wert von Freundschaft. Um die Ehre und Unsicherheit im Umgang mit Menschen und daraus resultierendes, teils seltsames Verhalten. Um Gier, die den Menschen den Verstand vernebelt und sie riskante Geschäfte eingehen lässt, bis die Investitionsblase platzt (und auch 100 Jahre späte haben sie nicht dazugelernt, dabei meint Dickens dazu "Every failure teaches a man something, if he will learn". Wir wollen wohl nicht lernen).
Insgesamt ist der erste Teil auch deutlich besser als der zweite Teil, der sich besonders in der Italienepisode unsäglich zieht. Was wohl auch dem Autor klar wurde, anders kann ich mir nicht vorstellen, wie er so schnell mal die Dorrit Brüder ext. Überhaupt wirkt der zweite Teil gegen Ende gehetzt, da sind Sprünge in der Geschichte und Lücken, wie das plötzliche Verschwinden von Blandois und das Auftauchen der Flugzettel. Wer vermisst Blandois und verteilt diese Zettel und warum?
Die Hauptperson Amy Dorrit ist mir zu gut, zu perfekt, hat keine Ecken oder Kanten und wirkt dadurch farblos und blutleer. Sie schwebt elfengleich wie ein guter Engel durch die Geschichte und bleibt doch dem Leser fremd: "her youthful and ethereal appearance, her timid manner, the charm of her sensitive voice and eyes,[…] ".
Mein Hauptkritikpunkt ist aber die mangelnde Charakterisierung von Mr. Merdle. Seine Motivation wird nicht hinterfragt. Ist er ein Betrüger oder selber Opfer? Das ist Dickens egal, für ihn sind alle Börsenspekulanten ein Übel und Mr. Merdle ein Archetyp.
Insgesamt neigt Dickens leider auch sehr zu Klischees, wie das Zusammenbrechen des Schlosses des bösen Herrschers nach dessen Tod. Er neigt zu der Ansicht, dass Reichtum schlecht ist, dass Reiche Menschen dumm und dekadent sind und nur arme Menschen wahre Größe haben, das ist mit zu schwarz weiß gemalt und einfach nicht weit genug gedacht.
Fazit. Gute, spannende Geschichte. Teilweise ein wenig arg klischeebehaftet mit einigen eher farblosen Figuren.