Cover des Buches Die Chance (ISBN: 9783498050429)
Rezension zu Die Chance von Stewart O′Nan

Die Chance

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Komplexer, faszinierender und psychologisch dichter Eheroman über Neuanfänge und letzte Chancen.

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 8 Jahren

Worum geht’s?

Nach dreißig gemeinsamen Jahren ist die Ehe von Marion und Art Fowler am Ende, von Affären untergraben und durch Sprachlosigkeit geprägt. Hinzu kommen große finanzielle Probleme: Nachdem beide kurz hintereinander ihre Jobs verloren haben, hat sich ein Schuldenberg angehäuft, jetzt stehen sie vor der Pleite. Weil sie sowieso nichts mehr zu verlieren haben, fahren sie zu den Niagarafällen, wo sie Jahrzehnte zuvor ihre Flitterwochen verbracht haben. Für die beiden ist es in zweifacher Hinsicht eine letzte Chance: Während sie tagsüber die Sehenswürdigkeiten abklappern, kämpft Art weiterhin um die Ehe, die Marion längst abgeschrieben hat. Und abends im Casino setzen sie ihre gesamten Ersparnisse, um mit viel Glück doch noch dem finanziellen Ruin zu entgehen.

Meine Meinung

Ich finde es wirklich unheimlich schwer, meine Meinung zu diesem Roman in Worte zu fassen. In der Regel erlauben Bücher es einem, für ein paar Stunden der Wirklichkeit zu entfliehen, stellen die Welt ein bisschen spannender, romantischer und witziger dar als sie ist. „Die Chance“ ist nicht so ein Buch, hier beschreibt ein Autor fast schon schmerzhaft lebensnah und realistisch. Marions und Arts Verhältnis ist äußerst komplex, ein Mix aus Zuneigung, Routine, Schuld, Hoffnung, Angst und möglicherweise einem Rest Liebe. Stewart O’Nan gelingt es, ihre Gefühle und Handlungen verständlich zu machen, ohne sie zu verurteilen. Hier gibt es keinen Erzähler, der einem Emotionen und Schlussfolgerungen auf dem Silbertablett präsentiert, stattdessen wird man als Leser dazu herausgefordert, selbst zwischen den Zeilen zu lesen. Insofern passt das abrupte, offene Ende zum Rest des Romans, trotzdem fand ich es ziemlich unbefriedigend. Grundsätzlich schließt die Geschichte mit einer positiven, hoffnungsvollen Note, aber für meinen Geschmack sind hier zu viele Fragen offen geblieben.

Eindeutig ist dagegen die Gesellschaftskritik, die der Autor zwar nur am Rande, aber doch sehr eindrücklich anklingen lässt. Marion und Art sind nur zwei von vielen Amerikanern, die während der Finanzkrise ihre Jobs verlieren und plötzlich mit Bergen von Schulden und einem Haus, das sie sich eigentlich nicht leisten können, dastehen. Diesen plötzlichen sozialen Abstieg einer Mittelstandsfamilie stellt der Autor sehr glaubhaft und eindringlich dar.

Die beiden Protagonisten sind genauso facettenreich wie ihre Beziehung zueinander, ich merke es auch jetzt beim Schreiben daran, dass ich ihre Charaktere hier nicht einfach mit ein paar Adjektiven zusammenfassen kann. Beide sind interessant, lebendig und gut ausgearbeitet, aber nicht die klassischen liebenswert-langweiligen Sympathieträger. Marion und Art sind keine Helden, sondern ganz normale, komplizierte Menschen mit Stärken und Schwächen, gerade deshalb kann man sich so gut mit ihnen identifizieren.

Wie alles andere in diesem Roman wird auch die Gegend um die Niagarafälle, Touristenmagnet und Traum-Reiseziel vieler Menschen, realistisch und ambivalent dargestellt. Marion und Art müssen feststellen, dass der Ort, den sie als junges, verliebtes Pärchen schon einmal bereist haben, im Winter nicht halb so schön ist wie im Sommer. Das Ganze ist im Grunde eine einzige Touristenfalle, alles ist völlig überteuert und vor den Sehenswürdigkeiten müssen sie lange anstehen. Der romantische Sehnsuchtsort entpuppt sich als ziemlich deprimierend, aber in manchen Momenten ist abseits der künstlichen Geldmaschinerie doch der Zauber der Natur zu spüren.

Fazit

Komplexe, lebensnahe Bilanz einer Ehe kurz vor dem Aus. Ein kurzer, aber sehr eindrücklicher Roman über Enttäuschungen, Neuanfänge und letzte Chancen.

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