Cover des Buches Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster (ISBN: 9783462048704)
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Rezension zu Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster von Susann Pásztor

Kein Mensch braucht mehr als Handgepäck

von Bri vor 7 Jahren

Kurzmeinung: mit unglaublicher Leichtigkeit, Wärme, Witz und ohne Kitsch erzählt Susann Pàsztor vom Begleiten Sterbender und Kennenlernen Lebender. LESEN

Rezension

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Brivor 7 Jahren
Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster - Ich war plötzlich wieder sechs Jahre alt, den Blick vom Wohnraum in die zu einem Krankenzimmer umfunktionierte Essecke in der Wohnung meiner Patentante gerichtet, direkt auf das geöffnete Fenster und das darunter stehende Bett. Leer war es. Heute. Gestern lag da noch atmend, aber sehr schwach, meine Urgroßmutter, 90 Jahre alt, zerbrechlich wie ein kleiner Vogel. Doch anders erinnerte ich sie in diesem Augenblick nicht, als eine dünne, ja dürre Frau, mit langen zu einem Dutt gerolltem grauem Haar, freundlich und doch etwas fremd. Der Tag an dem jemand das Fenster geöffnet hatte, war der Tag, an dem meine Urgroßmutter gestorben war. Ich sah zwar das geöffnete Fenster, sie selbst jedoch mutete man mir - glücklicherweise ? - nicht zu. Ab diesem Zeitpunkt jedoch sollte ich dieses Bild für immer in meinem Kopf haben, wenn jemand davon sprach, einen Angehörigen, Freund oder Bekannten "verloren" zu haben.

"Damit die Seele des Verstorbenen ungehindert nach draußen könne, so hatte man dieses Ritual bei seiner Ausbildung erklärt. Ein Akt des Loslassens. Bon voyage."

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
heißt der großartige neue Roman von Susann Pásztor, der sich tatsächlich mit dem Thema meiner Assoziation beschäftigt: Ein Mensch stirbt, und am Ende dieser Reise wird alles losgelassen. Die Hinterbliebenen geben das frei, was noch von der Person hier verweilt, was vielleicht die Quintessenz dessen ist, was uns im Grunde ausmacht: unsere Seele. Man mag daran glauben oder nicht, dass es sie gibt, doch eines erfährt man, wenn man das tut, was Susann Pásztor schon seit Jahren im Ehrenamt macht - Sterbende begleiten - je weiter sich ein Mensch von uns Lebenden entfernt, desto klarer tritt er selbst in seinem Wesen zu Tage. Aber Susann Pásztor schreibt nicht nur über Sterbebegleitung, sondern viel mehr über das Leben und alles was dazu gehört.

Fred ist alleinerziehender Vater des 13 Jahre alten Phil, Angestellter und seit neuestem als Ehrenamtlicher in einem Hospiz tätig. Seinen ersten Einsatz hat er bei Karla, um die 60 Jahre alt, reserviert und an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Bereits ihre erste Begegnung stellt Fred vor Herausforderungen:

" "Was ich davon habe? Vielleicht möchte ich lernen, es auszuhalten, dass Menschen sterben."
"Sie wollen das erst lernen? Sie können das noch nicht?", fragte Karla.
"Das ist ein langer Weg", sagte er vage.
Karla runzelte die Stirn, dann hatte sie offenbar eine Eingebung. "Sie machen das noch gar nicht lange, oder"
[...]
"Es ist mein erstes Mal." Er versuchte seine Stimm fest und selbstbewusst klingen zu lassen.
Sie sah ihn verblüfft an. Dann versuchte sie ein Lächeln, was ihr misslang, und sagte: "Was für ein Zufall. Bei mir ist es auch das erste Mal." "


Langsam aber sicher erarbeitet sich Fred dank seiner Beharrlichkeit einen Weg zu Karla, die dennoch distanziert und soweit wie nur möglich selbst bestimmt bleibt. Immer schon war sie klar in ihrem Wollen, doch jetzt gibt es Dinge, die sie aus der Bahn werfen. Alleine die körperliche Schwäche durch und nach den Chemotherapien, von denen sie ja weiß, dass sie nicht mehr nutzen, nur eine Verlängerung - der bleibenden Zeit?, des Leidens? - darstellen. Weshalb sie die Chemotherapie ja auch abgebrochen hatte und sich offenen Auges dem stellte, was sie erwartete und das war höchstens noch ein halbes Jahr, mehr oder weniger. Schmerzmittel sind heutzutage kein Problem, doch bei solch schweren Tumoren, wie bei Karla, musste die Dosierung immer wieder höher angesetzt werden. Ein neues Medikament jedoch sollte helfen.

"[...] Also mein Palliativarzt hat mir heute vorgeschlagen, ich sollte zusätzlich zu meinen Schmerzmitteln etwas Neues ausprobieren. Etwas, das nicht nur die Schmerzen dämpft, sondern auch gegen Übelkeit und Erbrechen wirkt und dazu noch appetitanregend und stimmungsaufhellend sein soll. Ein Wundermittel sozusagen." "Das klingt doch großartig." "Es ist sogar so großartig, dass es in der Apotheke eigens für mich zusammen gemixt wird, sobald ich mein Spezialrezept vorlege. Spezialrezept, weil: Achtung, Betäubungsmittelgesetz. Frau Garcia, sagt mein Arzt, das hat der Gesetzgeber leider so festgelegt, aber glauben Sie mir, THC ist entgegen der landläufigen Meinung eine sehr gute Sache, ganz besonders in Fällen wir Ihrem. Ich musste sehr lachen." "THC?" "Cannabis, Herr Wiener. Ich habe es mehr als dreißig Jahre lang geraucht und vor zehn Jahren damit aufgehört, und jetzt empfiehlt mir mein Arzt, ich solle es unter dem Namen "Dronabinol" für 400 Euro im Monat in der Apotheke kaufen, um mir den Lebensabend zu versüßen. Ich finde das komisch, Sie nicht?" "Ich weiß nicht." "Herr Wiener, ich wette, Ihr Freund Klaffki könnte mir meine Monatsration für einen Bruchteil dieses Preises organisieren. In weniger als einer Stunde." "

Nach und nach lässt Klara neben Fred Wiener auch noch andere Menschen in ihr Leben. Da ist der 13-jährige Phil, der heimlich Gedichte schreibt, seiner Mutter Gram ist, dass sie ihn mit ihrem Eso-Schnick-Schnack auch noch aus der Ferne belästigt und der viel zu klein ist für sein Alter. Ein Außenseiter, wie fast jeder Jugendliche in seinem Alter. Zumindest was das eigene Erleben angeht. Karla verhilft ihm zu einem Job. Er soll ihre vielen Fotofilme digitalisieren. Überall in ihrer Wohnung hängen Fotos von Konzerten, Rockmusikern. Immerhin war sie lange ein Deadhead - so nannten sich die eingefleischten Greatful Dead - Fans. Auch der Quasi-Hausmeister Klaffki mit Hund Kottke, Rona die junge Bedienung in Klaras Stammcafé und schlussendlich auch der betreuende Arzt und eine Pflegerin kümmern sich darum, dass Klara das bekommt, was sie braucht.

Doch was genau ist das, was man braucht, wenn man weiß, dass das eigene Leben bald vorbei sein wird? So unterschiedlich wie wir Menschen selbst sind, so unterschiedlich sind die Bedürfnisse Sterbender. Manch einer hat seinen Frieden gemacht mit dem was im Leben nicht ganz so gut gelaufen ist, manch einer kann nicht loslassen, andere müssen unbedingt noch etwas klären, sonst können sie nicht gehen. Will man einen Sterbenden begleiten, muss man sich immer der Grenzüberschreitung gewahr sein, die jederzeit im Raum steht. Die Klarheit, die viele Menschen in solch einer Situation befällt, zeigt Susann Pásztor wunderbar unprätentiös, witzig und warmherzig. In einem Gespräch mit ihrem Lektor auf der Buchmesse Leipzig sagte sie, sie liebe ihre Figuren. Das merkt man ihnen an, was aber gleichzeitig nicht heißt, dass diese Figuren durchweg nur liebenswerte Charakterzüge besitzen oder Dinge tun. Im Gegenteil. Doch sie lernen miteinander zu leben, mit Situationen zurecht zu kommen, die ängstigen und vor allem lernen sie anwesend zu sein. Aufmerksam zu sein. Denn das ist es, was zwar nicht nur Sterbende brauchen, sie aber ganz besonders. Auch wenn sie sich häufig zurückziehen, aus welchen Gründen auch immer.

Als meine Mutter ihren letzten Weg ging, war mir klar, dass ich alles stehen und liegen lassen musste, um sie zu begleiten. Glücklicherweise habe ich einen kulanten Chef, der nicht fragte, wann kommst Du wieder, sondern einfach nur nickte, als ich sagte, ich muss da hin, ich weiß nicht für wie lange, aber ich melde mich. Mein Mann fragte nichts, sondern packte nur Taschen. Mein Sohn war fast eineinhalb und konnte sich nicht wehren - ausserdem liebte er Oma und Opa und die Fahrten zu ihnen, auch wenn er sich vielleicht nicht aktiv erinnern konnte. Es waren zwei intensive, anstrengende aber obwohl ich meine Mutter gehen lassen musste, merkwürdigerweise sehr beglückende Wochen. Dieses Glück, diese Bereicherung, die ich durch das ganz nahe Herantreten an das Wesen meiner Mutter, an den Tod und damit an das, was uns alle wohl irgendwann ereilen wird, bis heute empfinde, ist in Susann Pásztors Roman fast physisch spürbar. Trotz aller Schwierigkeiten, trotz Trauer und Tränen, schafft sie es, ein Thema, das aus unserer Gesellschaft an vielen Stellen ausgeklammert wird, wunderbar leicht, unkitschig, ja sogar witzig zu behandeln. Und das ist eine wirkliche Kunst.

Sprachlich wunderbar flüssig wird das Thema Tod eines, das eben zum Leben dazu gehört und das wir nicht aussperren können. Der Schmerz, der mit dem Verlust eines geliebten oder zumindest vertrauten Menschen einhergeht, lässt sich nicht verhindern. Die Zeit, die man auf diesem Weg aber gemeinsam gegangen ist, macht ihn leichter erträglich.

Danke, Susann Pásztor für diese ehrliche, warmherzige und tröstliche Geschichte, die durchaus der Feuilletons würdig ist.
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