Rezension zu "Unser Buch der seltsamen Dinge" von Jennie Godfrey
Einige Bücher sind womöglich einfach 100 Seiten zu lang. „Unser Buch der seltsamen Dinge“ von Jennie Godfrey hat eine tolle Prämisse, aber durch viel Dramatik und ein redundantes Erzählmuster verlor es für mich zunehmend an Schwung. Schade. Der Anfang hat mich begeistert.
Miv und Sharon sind – obwohl grundverschieden – allerbeste Freundinnen. Als Mivs Mutter in eine schwere Depression fällt und Mivs Vater überlegt, mit der Familie wegzuziehen, bricht für die 12-jährige eine Welt zusammen. Wenn wenigstens die brutale Mordserie enden würde, über die ganz Yorkshire spricht. Dann würde Mivs Vater es sich bestimmt noch einmal überlegen und bleiben. Miv und Sharon machen sich also auf die Suche nach dem Ripper. Erste Verdächtige sind schnell gefunden: Der Ladenbesitzer um die Ecke sieht auffallend anders aus, ein älterer Mann treibt sich nachts auf dem Schrottplatz herum und die nette Bibliothekarin verhält sich seltsam.
Früh kristallisieren sich wichtige Motive heraus: Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, toxische Männlichkeit – während die schlaksige Miv und die hübsche Sharon immer neue Verdächtige auf ihre Liste setzen, stellen sich die meisten von ihnen nicht nur als harmlos heraus, sondern vielmehr als Opfer von Vorurteilen, Rassismus und brutalen Schlägern. Der Übergang von der Kindheit zur Jugend, den die beiden Mädchen erfahren, spiegelt sich im Blick auf die Außenwelt. Den beiden fallen immer mehr Ungerechtigkeiten in ihrer Umgebung auf. Gleichzeitig werden auch die Mädchen anders wahrgenommen, was ungewohnt und nicht immer gut ist: Vor allem Sharon erlebt nun aufdringliche Sprüche und lüsterne Blicke.
All dies ist wunderbar eingefangen und ermöglicht durch Mivs leichten, unschuldigen Erzählton sofort einen Zugang zu den Erlebnissen, die von einem beschaulichen, aber kleingeistigen England Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, eingerahmt werden.
Der Aufbau erscheint episodenhaft, fast wie eine Miniserie, in der sich immer neue kleine Geschichten auftun, die mehr oder weniger miteinander vernetzt sind, aber nacheinander abgespult werden. Dadurch wird die Handlung leider oft berechenbar. Ein Verdächtiger landet auf der Liste, Miv und Sharon lernen mehr über die Probleme der jeweiligen Person, begreifen einige Zusammenhänge und dann gibt es schon den nächsten Verdächtigen. Die Suche nach dem Mörder bleibt – eher unaufdringlich – Motor der Ereignisse.
Obwohl bei Weitem nicht nur Schlechtes geschieht, sondern durch die Aktionen der Mädchen auch viel Gutes losgetreten wird, war für mich irgendwann das Maß an Drama, Trauer und Hilflosigkeitsgefühl voll. Selbstmord, häusliche Gewalt, Depression, Kriminalität, Vergewaltigung, Vereinsamung, Trennungen. Es war von allem zu viel und gleichzeitig wurde zu konform erzählt. Zudem würde ich mehrere Perspektivwechsel als völlig überflüssig bezeichnen, da die Schilderungen von Miv bereits ein stimmiges Bild vermitteln.
Insofern glaube ich, dieses Buch hätte mit einer großzügigen Kürzung sehr gewonnen. So wie es aber nunmal ist, fasert es aus meiner Sicht an den Rändern aus, schleichen sich Routinen ein, fehlt die Dynamik. Es ist keineswegs ein schlechtes Buch. Aber die Autorin hat es nicht geschafft, mein Interesse über 464 Seiten hinweg konstant zu wecken.