Liebe Frau Röckel, wie funktioniert Ihre Recherche? Ist da zuerst eine Hintergrundrecherche und dann erst beginnen Sie zu schreiben? Oder kommen das Nachforschen und Überprüfen während des Schreibens? Oder anders gefragt: wächst die Idee mit dem Wissen oder das Wissen mit der Idee?
Eigentlich recherchiere ich gar nicht groß. Am Anfang steht die Idee, das heißt, ein Gedanke, eine Konstruktion oder eine Form, und dann, während des Schreibens, denke ich, da fehlt mir noch was, und dann lese ich ein bisschen rum (zum Beispiel, als ich das Märchen vom Vogel Greif schrieb, habe ich mich wieder etwas in die Grimmschen Märchen eingelesen), sonst nichts Besonderes. Allerdings habe ich die ganzen ornithologischen Details (im Prolog) mit einem Freund, der ein großer Vogelkenner ist, besprochen. Anders gesagt: Bei mir wächst das Wissen (nein, eigentlich kann man es gar nicht "Wissen" nennen, es ist weniger als das) mit der Idee, sie steht im Vordergrund, ihr gilt die Arbeit.
Welcher Autor hat Sie am meisten geprägt und eventuell sogar literarisch beeinflusst?
Einen einzigen Autor könnte ich gar nicht nennen - oder das ist je nach Phase unterschiedlich. Ich liebe viele Autoren und bin sicher, dass sie mich beeinflusst haben und immer noch beeinflussen - wie stark, kann ich nicht beurteilen. Als ich den Vogelgott schrieb, habe ich viel Lovecraft gelesen, und ich glaube, ich wollte auch ein bisschen von diesem Feeling, diesem kosmischen Grauen, das er immer wieder beschwört, in meinem Buch haben. Das war so eine Phase. Immer wieder kehre ich zu den Russen zurück, Tschechow, Gogol und Leskow, das sind meine Götter und meine großen Tröster in allen Lebenslagen. Aber auch Hebel und Keller und überhaupt viele deutsche Klassiker.
Womit könnte Ihnen ein Leser eine Freude machen, wenn er seine Eindrücke nach der Lektüre von „Der Vogelgott“ in einem Satz zusammenfassen sollte? Ist Glaube für Sie persönlich und für eine Gesellschaft wichtig?
Ich würde mich freuen, wenn ein Leser sagt, dass ihn das Buch beeindruckt hat, dass er eine Erkenntnis über sich selbst gewonnen hat. Die Auseinandersetzung mit Glauben und Religion ist für mich immer wichtig gewesen, allerdings würde ich nicht sagen, dass ich gläubig bin. Ob das gesellschaftlich relevant ist? Vielleicht ist es gesellschaftlich relevant, dass man sich von Prinzipien der Menschlichkeit und des Mitgefühls leiten lässt. Ob die von einem Gott kommen oder nicht, ist vielleicht nicht das Wichtigste.
Gibt es ein absolutes Lieblingsbuch, das Sie immer und immer wieder lesen könnten?
Immer wieder lesen könnte ich Gogols Erzählung „Der Mantel“.
Wie sind Sie auf so ein außergewöhnliches und düsteres Thema wie in „Der Vogelgott“ gekommen und wie sah die Umsetzung dazu aus? Wie lange haben Sie daran gearbeitet?
Ich bin auf mein Thema gekommen, weil ich mir immer wieder Gedanken machte über Gewalt und Krieg, die es in anderen Teilen der Welt gibt und die es bei uns vor nicht langer Zeit auch gab. Die Arbeit am Text dauerte, alles in allem, ca. anderthalb oder zwei Jahre.
Der Titel ihres Buches „Der Vogelgott“ ist auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich, jedoch ein Titel, der in Erinnerung bleibt. Wieso haben Sie sich dabei für die Zusammensetzung eines tierischen und eines menschlichen Charakters entschieden? Was für eine Bedeutung haben die Wörter „Vogel“ und „Gott“ für Sie?
Der Titel ergibt sich aus dem Inhalt des Buches. Ein sinistres und böses Wesen, das Menschen als Gott anbeten, bringt sie dazu, alle möglichen sinistren und bösen Taten zu begehen. Das Wesen ist eine Phantasie, ein Bild, eine menschliche Konstruktion, nichts Wirkliches.
Sie arbeiten als Übersetzerin mit anderen Autoren zusammen. Was reizt Sie an dieser Tätigkeit? Sie benutzen auch das Pseudonym Anne Spielmann. Grenzen Sie damit Ihre Übersetzungstätigkeit von Ihren eigenen Werken ab? Was hat Sie bewogen, ein Pseudonym zu benutzen?
Das Pseudonym benutze ich meistens deshalb, weil ich ein übersetztes Buch aus verschiedenen Gründen nicht in zu große Nähe mit mir selbst und mit meiner schriftstellerischen Arbeit bringen will.