Die Neunzigerjahre
Laura hatte die Gesichter in der Uni nicht mehr ausgehalten, wenn sie plötzlich im Mittelpunkt stand. Sie interpretierte die Mimik immer falsch. Erst in der Klinik verstand sie, dass ein Blick, der sie trifft, sie nicht zwangsläufig sieht. Sie besorgte sich ein Diktiergerät und nahm fortan alle Gespräche heimlich auf. Nicht der Inhalt interessierte sie, sondern die Diskrepanz zwischen ihrer Wahrnehmung und der Wirklichkeit. Lukas, gerade einmal zwanzig, war Pfleger in der Janssen-Klinik. Laura sprach gern mit ihm und wenn sie sich nachts unter der Bettdecke ihre aufgenommenen Gespräche mit ihm anhörte, war da kein Unterschied. Es war genauso, wie sie ihn wahrgenommen hatte.
Die Nullerjahre
Lukas wollte Meeresbiologie studieren und hatte eine Zusage aus Husum. Dann war seine Mutter gestürzt, ausgerechnet über seine Schuhe. Sie lag den ganzen Nachmittag im Flur, bis er wieder heimkam. Der Arzt, der sie untesuchte sagte es sei bloß gut, dass nichts passiert war, die Rettung würde die Mutter wohl kaum durch die Türe transportiert bekommen. Lukas war nicht bewusst gewesen, dass seine Mutter nicht mehr durch die Tür passte, ihr schon. Eigentlich wollte er aus dem Sozialbau Hudekamp, den er mit ihr bewohnte, aussteigen, doch dann zerriss er die Zusage aus Husum in kleine Fetzen.
Die Achtzigerjahre
Als der neue Arzt das Haldol bei Olga Rehfeld absetzte, das ihre Nerven jahrzehntelang torpediert hatte, begannen die Zuckungen, das Schmatzen und Züngeln. Noll hatte ihr die Literatur zurückgebracht, als Olga wieder denken konnte. Wenn die Neuzugänge kamen, sortierte sie ihr Besteck sechsunddreißig Mal hin und her. Sie musste hierbleiben. Mit dieser Situation hatte sie sich arrangiert, im betreuten Wohnen würde sie untergehen, das wusste sie.
Fazit: Svealena Kutschke hat überaus versiert eine Geschichte zusammengetragen, die am Ende das Bild einer Psychiatrie im Laufe von hundert Jahren zeigt. Mit großer Beobachtungsgabe hat sie Ärzte, eine Psychologin, Pflegekräfte, Patientinnen und deren Angehörige porträtiert. Ihre Kapitel sind unterteilt in die Jahrzehnte und die Person, die gezeigt wird. Die Kapitel springen scheinbar unwillkürlich hin und her und das, was ich erfahre, macht die Geschichte am Ende rund. Alle Mitwirkenden sind emotional versehrt. An jeder Ecke lauert der Tod (Thanatos lässt grüßen) und dann fällt die Tatsache, dass ein Leben tatsächlich endet vom Himmel wie die Klinge der Guillotine und trifft mich wie ein Schlag. Die Autorin zeigt sehr genau, wie ein psychisch kranker Mensch sich in seinem Zustand fühlt, wie er es erlebt. Aber nicht nur das, sie bindet auch ganz leicht, wie zufällig die Geschichte der Psychiatrie ein. Von der Euthanasie und „Wir wussten nicht, wohin die Menschen deportiert wurden“ über heute umstrittene Behandlungsmethoden und Medikamententestungen noch nicht zugelassener Arzneimittel. Und dann hat Svealena Kutschke auch noch Platz gelassen für viele unglaublich kluge Lebensweisheiten: „Empathie als Überlebensstrategie“ oder auch „Die Wirklichkeit ist nur eine Vereinbarung“. Das liest sich spannend und macht nachdenklich. Sie hat mich von der ersten bis zur letzten Seite mitgerissen.