Dass Leben anpassungsfähig sein muss, wissen wir spätestens seit Darwins Evolutionstheorie. Lebewesen, die sich an ihre Umwelt perfekt adaptieren können, setzen sich als Art durch und bleiben erhalten. Wie so etwas im Kleinen passiert, sieht man neuerdings in Großstädten. Insbesondere in Deutschlands größter Stadt, in Berlin, leben inzwischen Tiere, die sich einstmals nie dorthin getraut hätten, in seltsamer Eintracht mit der menschlichen Bevölkerung. Was den Mensch nicht fürchten muss, kommt zu ihm und wird ein sogenannter Kulturfolger. Oder eine Plage, wie etwa Wildscheine. Sie graben Vorgärten und Fußballplätze um. Man könnte dem entgegentreten und ihren Bestand durch Bejagung reduzieren. Das passiert jedoch allenfalls halbherzig.
Es fehlt offenbar zunehmend nicht nur an Jägern, sondern auch an Vernunft und Weitblick in diesem Land. So würde es dann auch nicht mehr verwundern, wenn sich bald Wölfe in sächsischen Städten vorstellen. Man hat sie bereits nur wenige Kilometer von Dresden entfernt gesehen. Dass sich Füchse in Berliner Großbaustellen einen Bau graben, spricht für das bekannt zügige Berliner Bautempo. Der Autor und Tierfotograf Sven Meurs findet das offenbar toll. Natürlich kann man das von seinem Standpunkt aus verstehen. Was ihn fasziniert, kann jedoch nicht in allgemeinem Interesse sein. Aber offenbar trifft Meurs mit seiner Begeisterung irgendeinen Nerv der Zeit, demzufolge wir völlig aus dem Häuschen sein müssen, wenn wir gewissermaßen zurück zur Natur gebracht werden, indem Tiere in Städte einziehen, die dort nicht ihren Lebensraum haben sollten.
Am Ende des Buches erklärt Meurs seinen Lesern, warum sich wilde Tiere in unseren Städte ansiedeln. Dabei macht er keinen Unterschied, um welche Arten es sich handelt. Er findet sie alle faszinierend, und wir sollten uns an ihnen erfreuen. Ich wiederum finde das bemerkenswert: Für Hunde gilt fast überall Leinenzwang, Katzen sollen eingefangen und zwangskastriert werden. Tauben verbreiten Krankheiten und werden deshalb gelegentlich bekämpft. Und nun sollen wir uns an umherstreifenden Füchsen und Wildschweinen erfreuen. So steht es jedenfalls bei Meurs. Mehr noch: "Ein anderes Problem, das die Tiere in der Stadt haben, ist der Verkehr und die Störung durch uns Menschen. Viele Tiere sind schlicht nicht in der Lage zu erlernen, dass von Autos Gefahr ausgeht … Schwäne, Marder und Eichhörnchen laufen, ohne zu gucken, über die Straße und werden häufig zu Verkehrsopfern." Da hilft nur eine gründliche Verkehrsschulung.
Mir fällt zu solchem undifferenzierten Unsinn nicht mehr viel ein. Es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob ich brütenden Vögeln helfe, Bienenvölker an vernünftigen Orten in Städten ansiedle oder ob ich es mit Füchsen und Wildscheinen im morgendlichen Berufsverkehr zutun bekomme. Für solche Situationen soll ich ein Bewusstsein entwickeln, wo die Rotten vielleicht die Straße kreuzen und mich entsprechend rücksichtsvoll verhalten. Fordert Meurs .
Es lebt sich übrigens auch ganz toll mit Steinmardern und Waschbären zusammen. Die sind total anhänglich und richten es sich in Autos oder auf Dachböden gemütlich ein. Wie Meurs das empfinden würde, wenn es ihn trifft, würde ich nur zu gerne wissen.
An Flugplätzen oder sogar in Fußballstadien müssen Vögel durch andere Vögel oder Jäger vertrieben werden, an Autobahnen baut man Wildzäune. Davon ist übrigens in diesem Buch auch die Rede. Aber in Städten sollen wir Füchse, Waschbären und Wildschweine akzeptieren, uns an ihnen erfreuen und uns nach ihnen richten? Das klingt nicht nur schizophren. Es ist es auch.
Wenn ich diesem Buch dennoch vier Sterne gebe, dann liegt das nicht an meiner Sympathie für das vernunftbefreite Romantisieren des Autors. Vielmehr möchte ich honorieren, dass es Meurs gelungen ist, ein wirkliches Problem zu beschreiben, selbst wenn er das ganz anders sieht. Er hat sich in neun Großstädte (Frankfurt a. M., Stuttgart, Köln, Neuss, Heidelberg, Düsseldorf, Hamburg, München, Berlin) und ins Ruhrgebiet aufgemacht und dort viel Lebenszeit mit Warten auf ein Motiv zugebracht. Entstanden ist danach ein lehrreiches und informatives Buch mit vielen schönen Fotografien. Auch wenn man seinen romantisierenden und undifferenzierten Tenor nicht teilt, kann man es dennoch partiell spannend und schön finden.
Sven Meurs
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Sven Meurs
Großstadt Wildnis
DEUTSCHLAND
Deutschlands letzte Paradiese
Neue Rezensionen zu Sven Meurs
Schon lange liest man immer wieder Meldungen und Berichte, dass Tiere, die als Wildtiere früher ausnahmslos in Wald, Feld und Flur gelebt haben, sich in unseren Großstädten fast unbemerkt einen neuen Lebensraum erobert haben, in dem sie sich sehr wohl fühlen, der ihnen Nahrung und Schutz bietet und an den sie sich hervorragend adaptiert haben.
Wenn man genau darauf achtet und die Hinweise kennt, kann man heute zwischen Häuserschluchten, Parks und Straßen die unterschiedlichsten wilden Tiere antreffen und beobachten.
So ist Berlin zur Hauptstadt der Wildschweine geworden, in München hat der Biber die Isar wiederentdeckt, Frankfurt am Main gilt als die Stadt der Vögel und in Düsseldorf hat sich der Eisvogel inmitten der Stadtparks angesiedelt. Warum das so ist, und wie man das Verhältnis zwischen den neuen Wildtieren und den eingesessenen Menschen und Tieren beschrieben kann, damit beschäftigt sich das vorliegende Buch „Großstadt Wildnis“ neben vielen anderen Fragen.
Der Fotograf Sven Meurs hat sich auf Entdeckungssafari begeben, zunächst durch die fünf größten Städte des Landes. Er hat die unterschiedlichsten Tiere in ihrem neuen Lebensraum fotografiert. Er erklärt in informativen Texten jeweils, warum die Tiere in die Städte kommen, wie sie in einer von Menschen geprägten Umwelt leben und überleben und auch, wie man sie schützen kann. Faszinierende Fotos dokumentieren das eindrücklich.
Er selbst und viele Menschen, mit denen er gesprochen hat und die sich für den Schutz und Erhalt von Wildtieren in der Stadt einsetzen, ist er der Meinung, dass diese Tiere den städtischen Raum und die Natur in der Stadt bereichern und nicht etwa stören.
Jedes einzelne Kapitel wird eingeleitet durch eine Aufmacherseite, die Jörg Hülsmann bezaubernd illustriert hat. Seine Zeichnungen zeigen die Silhouette der jeweiligen Stadt und ein dort heimisch gewordenes Tier.
Ausflugstipps für die eigene Naturbeobachtung runden dieses modern gestaltete Naturbuch ab, in dem sich durch die beeindruckenden Fotos die urbane Natur aus nächster Nähe erleben lässt.
‚Inzwischen leben, zumindest in Berlin, deutlich mehr Füchse im Stadtgebiet als auf gleicher Fläche im Wald. Selbst Insekten haben in der Stadt eine bessere Überlebenschance als auf intensiv genutzten, mit Pflanzenschutzmitteln belasteten Agrarflächen. In keiner anderen Metropole Deutschlands gibt es derart viele Wildschweine. Auch Steinmarder, Waschbären und Biber sind inzwischen fester Bestandteil der ‚Stadtvielfalt‘. Immer öfter gibt es Meldungen von Wildtieren, die in Parkanlagen, Gärten, Kleingärten und sogar auf großen Plätzen in der Stadt beobachtet wurden. Die Tiere scheinen sich an das Leben der Menschen angepasst und als sogenannte Kulturfolger die Vorzüge der Großstadt für sich entdeckt zu haben. Stadtmenschen werden in der Regel erst auf die Tiere aufmerksam, wenn sie auffällig werden, gefährlich scheinen oder Ärger machen.‘ (Seite 7)
Sven Meurs erzählt in seinem Buch ‚Großstadt Wildnis‘ von Steinkäuzen in Frankfurt/Main, Feldhasen in Stuttgart, Schwalbenschwänzen im Ruhrgebiet, Füchsen in Köln, Nutrias in Neuss, Waschbären in Kassel, Halsbandsittichen in Heidelberg, Eisvögeln in Düsseldorf, Waldohreulen in Hamburg, Igeln in Wuppertal, Bibern in München, Störchen in Münster, Wildschweinen in Berlin u.v.m.
Dabei berichtet er von seinen - unglaublich geduldigen - Versuchen, die Tiere vor die Linse zu bekommen, erwähnt Foto-Hotspots, interviewt Experten für bestimmte Tierarten, zählt Besonderheiten der Tiere auf und setzt sich mit Problemen am jeweiligen Ort auseinander.
Ich bin in ländlicher Umgebung aufgewachsen, doch meinen allerersten freilebenden Fuchs habe ich an Berliner Bahngleisen innerhalb des S-Bahn-Rings, also sehr zentral, gesehen. Außerdem besucht uns täglich eine Nebelkrähe, setzt sich auf unseren Balkon und schaut mit schiefgelegtem Kopf durch unsere Fenster, und aus meiner Heidelberger Zeit sind mir die im Buch erwähnten Sittiche sehr geläufig, die ich oft in Bäumen entdeckt oder beim Fliegen beobachtet habe. Ich bin also selbst eine Zeugin der Großstadtwildnis, und aus diesem Grunde war ich sehr gespannt auf Meurs‘ Buch, und nach der Lektüre kann ich es jedem, der sich für Tiere interessiert, nur empfehlen.
Die Fotografien im Buch sind wunderbar, und oft musste ich wegen der niedlichen, ungewöhnlichen, spektakulären Fotos kichern, und immer wieder habe ich gestaunt, welche Tiere wo leben, wie sie ihre Vorteile aus dem Leben in der Stadt ziehen, wie sie sich angepasst und an den Menschen gewöhnt haben. Und auch über den Fotografen und Autor kann man nur staunen, wie viel Geduld er aufbringt und mit wie viel Beharrungsvermögen er ans Werk geht, bis er endlich das gewünschte Bild im Kasten hat.
Sehr gelungen sind auch die Illustrationen von Jörg Hülsmann, die die jeweiligen Kapitel einleiten, indem sie typische Landmarks und typische Tiere in einer bestimmten Stadt abbilden.
‚Großstadt Wildnis‘ ist ein wunderbares und faszinierendes Buch und ein echter Augenöffner für den Gang durch die Großstadt, wo man mit etwas Glück und Geduld die ungewöhnlichsten Tiere entdecken kann.
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