Rezension zu "Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen" von Gunter Gebauer
Die Wiederkehr der „Massen“
Das Zeitalter des „reinen Individualismus“ mit seiner ebenso rein gedachten Bezogenheit allein auf den Aspekt der Selbstverwirklichung schien in den letzten Jahrzehnten zumindest in den wirtschaftlich und technisch hochentwickelnden Gesellschaften, vollständig das Modell der „Massen“ früherer Zeiten (eine Elite führt, die Massen folgen, die Massen waren dabei vor allem ein Ort der „Lenkung“ bis hin zur „Propaganda“ als eigenständige politische Größe, unter Einbeziehung auch der „Angst vor der Masse“ als umwälzende Kraft, so einmal aus der „Lenkung“ ausgebrochen) abgelöst zu haben.
Doch die jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, der „neue Populismus“ und die neuen „Massenbewegungen“ zeigen auf, dass dies ein trügerischer Eindruck war. Wobei die Tendenz und die Funktion der „Masse“ in der Gegenwart doch unterschiedliche Strömungen zum traditionellen Verständnis des Begriffes der „Masse“ aufweist.
Auf jeden Fall aber scheint es wieder in Schlagweite zu geraten, dass „Massen mobilisiert werden….und mit Macht historische Veränderungen herbeiführen (könnten)“.
Ob Occupy, arabischer Frühling, Demonstrationen in Kiew oder Istanbul, die „Masse macht sich seit etwa einem Jahrzehnt wieder deutlich, klar und vernehmbar bemerkbar und „wälzt“ durchaus auch um.
Eindrücke, welche die These der Autoren deutlich stützen, dass „die Massen….nie verschwunden waren“, sondern „neue Massen“ entstanden sind, „die man nur nicht als Massen wahrgenommen hat“, weil sie nicht dem klassischen Bild der „Masse Mensch“ entsprechen.
Vor allem, und darauf verweist das Buch eindringlich, ist das Selbstverständnis der Beteiligten an der Masse ein anders als historisch bisher betrachtet. Denn in der „modernen Masse“ versteht der Einzelne sich weiterhin als „selbstbestimmtes Individuum“, gar als „Singularität“ in Form einer „Teilmenge von Interessen“ an und in der Masse.
Und neben dieser Beobachtung, im Blick auf Flüchtlingsströme und Populismus, tauchen zudem „klassische Massen“ am Horizont wieder auf, die sich von „modernen Massenbewegungen“ deutlich unterscheiden.
Dies gemeinsam zu betrachten und neue, sozialwissenschaftliche Theorien zu formulieren zum Verständnis dessen, was passiert und wie man dem konstruktiv begegnen kann, das ist Ziel und roter Faden dieses interessanten Werkes.
Wie entstehen aus unscheinbar wirkenden Anfängen „Massenbewegungen“ in Kultur und Politik? Und dies unter Einbeziehung des wahrlich neuen Aspektes des Verhältnisses zwischen Masse und Individuum mit anderem als historisch angenommenen Selbstverständnis? Was fast ein Paradoxum zu Beginn bereits darstellt, denn eine klassische „Verschmelzung“ in der Masse findet nicht mehr statt, eine Tendenz zur Vereinzelung bleibt bestehen, aber „hinter gleich aussehenden Hausfassaden“, die wiederum Sinnbilder der neuen „Massenkultur“ sind. Was die Autoren damit auflösen, dass das „Massenereignis“ eben nicht mehr „vom Privaten ins Öffentliche“ drängt, wie zu früheren Zeiten, sondern vom „Öffentlichen ins Private“ tendiert, „das Massenhandeln wird verinnerlicht“.
Gepaart mit einer „Konkurrenz diverser Massen“ untereinander und einem ebenso bestehenden Konkurrenzdruck in der jeweiligen Masse.
Was bereits vielfache Fragen und Themengebiete aufwirft, denen die Autoren im Lauf der Lektüre gründlich und detailliert nachgehen und damit dem Leser tatsächlich ein gutes Stückweit die „neue Welt“ zu erklären vermögen mitsamt vielfacher Anregungen zur eigenen Reflexion der eigenen Rolle in all diesem Geschehen. Bis dahin, klarzustellen, dass „die Masse“ immer Orientierungspunkt für den Einzelnen ist, dieser aber nun als „Masse“ gezielt Einfluss auf die historische Entwicklung nehmen kann. Ohne dabei, wie oft angenommen, alles Individuelle aufzulösen in einer „Anpassung“ an den Durchschnitt.
Am Ende endet die Lektüre mit dem Wissen, dass letztlich spürbare und weitreichende Veränderungen nur mit und in der „Masse“ sich vollziehen.