Ausgezeichnete psychologische Studie eines 8-köpfigen Teams unter Glas!

Der 1948 in Peekskill, NY geborene Autor studierte Englisch und Geschichte und arbeitete die nächsten vier Jahre als Lehrer an einer High School. 1977 erwarb Boyle an der University of Iowa den Doktortitel in englischer Literatur des 19. Jahrhunderts, später wird John Irving sein Mentor. Er hat das Genre des historischen Romans durch seine gründlich recherchierten Bücher, auf Grundlage historischer Ereignisse, geprägt und lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Montecito, Santa Barbara. Für mich ist folgender Roman nach „Hart auf Hart“ mein zweites Buch von ihm.

Zum Inhalt (Klappentext, der leider ein wenig zu viel verrät): In einem geschlossenen Ökosystem unternehmen Wissenschaftler in den neunziger Jahren in den USA den Versuch, das Leben nachzubilden. Zwei Jahre lang darf keiner der acht Bewohner die Glaskuppel von „Ecosphere 2“ verlassen. Egal, was passiert. Touristen drängen sich um das Megaterrarium, Fernsehteams filmen, als sei es eine Reality-Show. Eitelkeit, Missgunst, Rivalität – auch in der schönen neuen Welt bleibt der Mensch schließlich doch, was er ist. Und es kommt, wie es kommen muss: Der smarte Ramsay verliebt sich in die hübsche Dawn – und sie wird schwanger. Kann sie das Kind austragen?

Meine Meinung: Anfang der 90iger Jahre gab es in der Wüste Arizonas ein Projekt namens "Biosphäre 2", bei dem Wissenschaftler in einem geschlossenen Öko-System spezielle Biotope für ein evtl. Leben auf dem Mars oder anderswo auf ein mögliches Überleben untersuchten. Aus verschiedenen Gründen ist dieses Experiment allerdings gescheitert, wobei die Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen einer der Faktoren war. Hier ein SPIEGEL-Artikel.

Der Autor ändert nun den Namen von "Biosphäre 2" in „Ecosphere 2“, kurz „E2“ um und entwirft eine neue, äußerst unterhaltsame Geschichte mit vier Frauen und vier Männern, die unter einer Kuppel aus Glas und wie bei der TV-Reality-Show „Big Brother“ von jedermann beobachtet, ums nackte Überleben kämpft. Das Spannende daran ist natürlich, dass diese Acht – vergleichbar mit Menschen in einem kaputten Aufzug – ihrer Welt nicht entfliehen können, und somit tritt irgendwann das ein, was nur allzu menschlich erscheint, nämlich, dass nicht nur technische Krisensituationen entstehen (z.B. ein Stromausfall!), sondern auch unüberbrückbare Konflikte innerhalb des Teams, die durch Dawns projektgefährdende Schwangerschaft verursacht werden.

Die absolute Stärke ist weniger der Plot als vielmehr die Charakterzeichnung (was mir übrigens schon bei „Hart auf Hart“ sehr positiv auffiel!). Der Autor erzählt die Handlung aus Sicht dreier Figuren (dem Liebespaar Ramsay und Dawn sowie Linda, einer Außensicht) und das jeweils aus der Ich-Perspektive. Es ist eins der schwersten Dinge für einen Autor, den Figuren unterschiedliche Stimmen zu verleihen, aber Boyle meistert das äußerst gekonnt, der Leser sieht sofort die Figuren sehr plastisch vor seinem geistigen Auge und kann deren Verhalten und Motivationen gut nachvollziehen.

Der zweite Pluspunkt für mich ist die formale Gestaltung: der Roman ist unterteilt in vier Abschnitte (vor dem Einschluss, 1. Jahr, 2. Jahr, nach dem Einschluss) und die Ich-Perspektiven wechseln einander in Dreier-Staffeln ab, wobei die Handlung stets fortgeführt wird, mit einigen kleinen Überschneidungen. Dabei ist das Timing des Autors perfekt, denn wenn die Sichtweise wechselt, folgt meist der Plot-Teil, der für jene Figur gerade besonders relevant zu sein scheint.

Das Ende kommt zwar etwas abrupt und die offenen Fragen lassen mich ein klein wenig enttäuscht zurück, aber es ist verkraftbar, d.h. Kritik auf hohem Niveau. Man schlägt das Buch mit einem zufriedenen Seufzer zu.

Fazit: Eine ausgezeichnete psychologische Studie eines 8-köpfigen Teams unter Glas: unterhaltsam und spannend! Stärken sind die psychologisch ausgereifte Charakterzeichnung und die formale Gestaltung. Mein erstes Highlight des Jahres, für das ich sehr gerne 5 Sterne vergebe – unbedingt lesen!