Rezension zu "July Crisis: The World's Descent into War, Summer 1914" von T. G. Otte
Andreas_OberenderAuch in der angelsächsischen Welt reißt der Strom der Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg nicht ab. Die beiden Flaggschiffe unter den britischen Wissenschaftsverlagen, Cambridge und Oxford University Press, haben jetzt nahezu zeitgleich zwei Bücher über die Juli-Krise herausgebracht. Als historisch interessierter Leser fragt man sich unwillkürlich, ob das wirklich notwendig ist. Es herrscht beileibe kein Mangel an englischsprachigen Untersuchungen der Ereignisse, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten. Vor zehn Jahren legte der Amerikaner David Fromkin ein Buch zu diesem Thema vor ("Europe's Last Summer. Who Started the Great War in 1914?", 2004). In jüngster Zeit haben Christopher Clark, Sean McMeekin und Margaret MacMillan die Juli-Krise unter die Lupe genommen. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob weitere Bücher der Juli-Krise tatsächlich neue Facetten und Erkenntnisse abgewinnen können. Die Studie des britischen Historikers Thomas Otte verdient schon allein deshalb Aufmerksamkeit, weil der Verfasser ein bekannter Experte für die Geschichte des europäischen Staatensystems im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist. Bevor Ottes Darstellung und Interpretation der Juli-Krise skizziert werden, müssen zwei grundsätzliche Probleme seines Buches angesprochen werden.
1. Das Vorwort und die - auffallend knappe - Einleitung enthalten keinerlei Thesen, die Neugierde wecken und potentielle Leser davon überzeugen könnten, dass die Lektüre der folgenden 500 (!) Seiten lohnenswert ist. Unklar bleibt, was Otte bewogen hat, der bereits sehr umfangreichen Literatur über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein weiteres umfangreiches Buch hinzuzufügen. Was motivierte ihn zur Arbeit an seinem Buch? Nirgendwo definiert Otte seine Position gegenüber der älteren und neueren Weltkriegsforschung. Wer der Literatur zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges weitere 500 Seiten hinzufügt, der sollte schon zu Beginn klarstellen, ob sich seine Darstellung von anderen Darstellungen abhebt und wenn ja, in welcher Weise. Das ist nicht zu viel verlangt!
Ottes Buch lässt eine systematische Auseinandersetzung mit neueren Arbeiten vermissen, insbesondere Christopher Clarks "Schlafwandlern" oder Sean McMeekins umstrittenem Buch "The Russian Origins of the First World War"" (2011). Auch Stefan Schmidts wichtige Studie über Frankreichs Rolle in der Juli-Krise (2009) wird von Otte kaum berücksichtigt. Eine Bibliographie fehlt, eine merkwürdige Auslassung, wenn man bedenkt, dass das Buch bei einem der renommiertesten angelsächsischen Wissenschaftsverlage erschienen ist. Seltsam, um nicht zu sagen grotesk nimmt sich Ottes Behauptung aus, jüngste Untersuchungen und Interpretationen der Juli-Krise hätten sich "von den Quellen entfernt" (S. 6). Wer die Bücher von Clark, McMeekin und Schmidt gelesen hat, der kann über eine solch pauschale und dreiste Abwertung der Arbeit anderer Historiker nur den Kopf schütteln.
2. Das Buch ist unnötig lang und viel zu detailreich. Die überbordende Detailfülle steht in eklatantem Kontrast zu der Tatsache, dass Otte nichts Neues mitzuteilen hat. Er erzählt eine Geschichte, die schon dutzendfach erzählt wurde. Die Juli-Krise ist quellenmäßig so gut erschlossen, dass ein neues Buch kein vollkommen neuartiges Bild entwerfen, sondern allenfalls das bestehende Bild um ein paar kleinere Nuancen und Schattierungen ergänzen kann. Ottes Buch fehlt es daher von vornherein an jeglichen Spannungs- und Überraschungsmomenten. Man weiß als Leser schon auf der ersten Seite, wie die Geschichte ausgehen wird. Umso ärgerlicher ist es, dass sich das Buch über mehr als 500 Seiten hinzieht. Otte beschränkt sich wohlgemerkt auf das Attentat von Sarajevo und die Juli-Krise. Eine Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, die diese Bezeichnung verdient, bietet er nicht. Sowohl Christopher Clark als auch Margaret MacMillan ("The War That Ended Peace", 2013) haben in jüngster Zeit gezeigt, dass man die Geschichte des europäischen Staatensystems zwischen 1890 und 1914 und die Juli-Krise sehr wohl zusammen in einem Band behandeln kann, ohne dass es zu Verkürzungen und Vereinfachungen kommen muss.
Zu allem Übel hat Otte seine Darstellung lediglich in sieben große Kapitel gegliedert. Eine Gliederung nach einzelnen Tagen, wie sie McMeekin in seinem Buch über die Juli-Krise vorgenommen hat, ist aus Lesersicht sehr viel besser geeignet, den Überblick über den Gang der Ereignisse zu behalten. Damit ist auch schon das Stichwort für einen weiteren Kritikpunkt gefallen: Es ist unklar, an welchen Leserkreis sich das Buch richtet. Otte macht dazu keine Angaben. Für historisch interessierte Laien und Studierende ist das Buch angesichts seiner Länge, seiner ermüdenden Detailfülle und der schwer überschaubaren Zahl an Akteuren vollkommen ungeeignet (die Liste der "wichtigsten" Personen am Anfang des Buches verzeichnet mehr als 150 Monarchen, Politiker, Diplomaten und Militärs!). Als Einstiegslektüre für Leser, die sich erstmals näher mit der Juli-Krise befassen wollen, ist das Buch nicht zu empfehlen.
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Doch nun zu Ottes Darstellung und Interpretation der Juli-Krise. Das, was Otte auf Hunderten Seiten darlegt, lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Die Darstellung ist weit entfernt davon, so "originell" zu sein, wie es der Klappentext großspurig ankündigt. Ottes Plädoyer, das Handeln der Akteure (agency) sei für das Verständnis der Juli-Krise wichtiger als strukturelle Faktoren (Bündnisse, Wettrüsten, Nationalismus usw.), kann keinerlei Originalität für sich beanspruchen. Im Grunde ist dies eine durch und durch konventionelle Analyse, die viele gut bekannte Motive noch einmal durchspielt und nicht zu einem überraschenden Ergebnis gelangt. Österreich-Ungarn wollte das Attentat von Sarajevo als Vorwand nutzen, um mit Serbien abzurechnen und seinen prekär gewordenen Großmachtstatus zu bekräftigen. Darin wurde es vom Deutschen Reich unterstützt, das seinem einzigen brauchbaren Verbündeten energisch zuredete, das Serbien-Problem militärisch zu lösen. Die Wiener Führung war in einem "Tunnelblick" gefangen. Ihre Außenpolitik war ganz auf den Balkan fixiert und ließ die größeren Dimensionen des europäischen Mächtesystems sträflich außer Acht. Das Risiko russischen Eingreifens zugunsten Serbiens war den beiden Verbündeten bewusst, wurde aber lange als gering eingestuft. Mit dem berüchtigten "Blankoscheck" vom 5. Juli machte sich Berlin vom weiteren Vorgehen Wiens abhängig. Es verfolgte keine eigenständige Linie mehr. Britische Vorschläge für eine Verhandlungslösung wurden immer wieder abgelehnt, weil eine Einmischung anderer Mächte in den österreichisch-serbischen Konflikt verhindert werden sollte. Berlin ignorierte alle Appelle, mäßigend auf Wien einzuwirken.
Die Reichsleitung setzte auf eine Lokalisierung des Konflikts. Reichskanzler Bethmann Hollweg spekulierte darauf, durch eine betont unnachgiebige Haltung Frankreich und Russland einzuschüchtern und zum Einknicken zu bringen. Wäre dies gelungen, wäre die Entente nachhaltig erschüttert worden, und Deutschlands außenpolitischer Handlungsspielraum hätte sich wieder erweitert. Das Risiko eines großen Krieges wurde von den Berliner Politikern und Militärs billigend in Kauf genommen. Ohne es an irgendeiner Stelle ausdrücklich zu sagen, weist Otte Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich die Hauptverantwortung für die Eskalation der Juli-Krise zu. Der Anteil Russlands und Frankreichs wiegt aus seiner Sicht weniger schwer. Die beiden Entente-Mächte verfolgten ebenfalls eine Politik der Härte und Unnachgiebigkeit, um die Mittelmächte von ihrem gefährlichen Kurs abzubringen. Ohne explizit klarzustellen, dass er Sean McMeekin widerspricht, behauptet Otte, die frühe russische Mobilmachung sei eine reine Drohgebärde gewesen. Das Zarenreich habe keinerlei offensive oder aggressive Ziele verfolgt. Petersburg sei es lediglich darum gegangen, Standfestigkeit zu beweisen und eine neuerliche außenpolitische Blamage auf dem Balkan (ähnlich wie während der Bosnischen Annexionskrise 1908/09) zu verhindern. Die französische Führung, die von Otte beinahe wie ein unbedeutender Nebenakteur dargestellt wird, unterstützte Petersburgs kompromisslose Linie gegenüber Wien, weil sie das Bündnis mit Russland nicht durch Untätigkeit oder Halbherzigkeit gefährden wollte. Am besten kommt Großbritannien weg. Das ganze Buch läuft auf eine kaum verhüllte Huldigung an den britischen Außenminister Edward Grey hinaus, der, so Otte, als einziger Politiker die gesamteuropäische Ordnung im Blick behalten und sich durchweg für eine Verhandlungslösung eingesetzt habe - ohne Erfolg.
Das alles ist nicht neu oder originell; das alles konnte man schon in vielen anderen Arbeiten lesen, seien es Spezialuntersuchungen, seien es Gesamtdarstellungen. Otte setzt seine Lesart der Juli-Krise auch nicht in Bezug zu konkurrierenden Interpretationen. Eine Auseinandersetzung mit anderen Deutungen der Juli-Krise, also etwa mit den Büchern von Clark und McMeekin, hält er anscheinend für unnötig und überflüssig. Er konstatiert, in Wien, Berlin und Petersburg hätten die verworrenen politischen Strukturen einen adäquaten Umgang mit der Krisensituation verhindert. Die professionelle Inkompetenz der Akteure in den drei Hauptstädten habe die Lage zusätzlich verschlimmert. Die Juli-Krise müsse als Scheitern der Staatskunst (statecraft) verstanden werden. Wer wollte diesem Befund widersprechen? Eine schlüssige Antwort auf die Frage, warum die Staatskunst ausgerechnet im Juli 1914 versagte, bietet Otte allerdings nicht. Die gleichen Akteure, denen er Inkompetenz unterstellt, hatten vor 1914 viele andere Krisen friedlich gelöst. Warum gelang ihnen das im Juli 1914 nicht?
Es erweist sich als großer Nachteil, dass Otte sein Buch mit den Schüssen von Sarajevo beginnen läßt und die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges komplett ausblendet, darunter so wichtige Aspekte wie die britisch-französischen und die französisch-russischen Beziehungen. Das Buch gleicht einem Theaterstück, das keinen ersten und zweiten Akt besitzt und nur aus dem dritten Akt besteht. Wie soll man den dritten Akt verstehen, wenn man nicht weiß, was vorher geschehen ist? Nirgendwo beleuchtet Otte die politische Strukturen, die Entscheidungsprozesse und die Mentalitäten der Politiker und Militärs so gründlich und systematisch, wie dies Clark und andere Autoren getan haben. Nach der anstrengenden Lektüre muß man als Leser feststellen, dass Ottes Buch hinter dem heute erreichten Diskussionsstand zurückbleibt. Es ist nicht geeignet, die Debatte um die Juli-Krise voranzubringen. Otte verdient Anerkennung für sein umfassendes und tiefgründiges Quellenstudium. In puncto Quellenkenntnis ist er Clark und McMeekin zweifellos überlegen. Die Fußnoten - es sind tatsächlich Fuß-, keine Endnoten - bestehen mehrheitlich aus Quellenverweisen. Die Auseinandersetzung mit der aktuellen Sekundärliteratur war für Otte offenbar zweitrangig. Das macht sich durchweg bemerkbar, und nicht auf positive Weise. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein Historiker Jahre seines Lebens in das Vorhaben investiert hat, Eulen nach Athen zu tragen.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juli 2014 bei Amazon gepostet)