Manchmal kennt der Mut keine Grenzen. Man springt über den eigenen Schatten, begräbt Vorurteile und schiebt Ängste beiseite. Ein besonders aufwühlendes Beispiel dafür ist das Buch „Aftershock: Die Geschichte von Jerus und Nadira“ von Tamar Verete-Zehavi.
Sie erzählt in ihrem Jugendroman von zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können. Jerus ist siebzehn und Israelin, die achtzehnjährige Nadira Palästinenserin. Beide leben im selben Land, aber nicht in der gleichen Welt. In einem Supermarkt in Jerusalem zündet Nadira ihren Sprengstoffgürtel. Zufällig ist Jerus auch dort und wartet auf ihre Freundin Ella. Jerus stirbt, Ella überlebt schwer verletzt. Von einem Tag auf den anderen ändert sich das Leben der 15-Jährigen komplett.
Über Ellas Schmerz schwebt eine dunkle Wolke, aber nach dem ersten Schock spielt sie die Starke und unterdrückt jeden Schmerz. Nach und nach taut sie ein wenig auf. Trotzdem legt sich eine düstere Erkenntnis wie ein zu eng gebundener Schal um ihren Hals und die ist genauso bitter wie der Schmerz über den Verlust ihrer besten Freundin: Sie fühlt sich nicht mehr dazugehörig im Kreis ihrer Freundinnen. Sie igelt sich ein und schottet sich ab von der Welt. Erst kann sie nicht verstehen, was da mit ihr passiert. Sie taucht immer mehr ab und strickt sich einen eigenen Schutzmantel, der sie vor der Realität bewahrt und nicht an das Schlimme erinnert. In einer Phantasiewelt malt sie das Bild der jungen Palästinenserin und schreibt sich alles von der Seele. Doch schon bald möchte sie es nicht bei ihrer ausgedachten Geschichte belassen und nimmt Kontakt zu Nadiras Familie auf.
Wenn man die Geschichte liest, schafft es die Luft nicht immer über den Hals hinaus. Eigentlich möchte man die Augen schließen. Nicht sehen, zu was Menschen in der Lage sind. Nicht lesen, wie weh es tut, wenn man von heute auf morgen ein fremdes Ich im Spiegel anschaut. Nicht fühlen, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber ich ermuntere alle, weiter zu lesen, denn Hoffnung und Mut brechen bald die düstere Kruste auf. Die Sonne kommt durch. Es ist eine Freude, wie aus der zusammengekauerten Ella ein Mädchen heranreift, das wieder laufen kann und dabei unwahrscheinlich gerade ist. Wie sie mit Rückgrat über Brücken läuft, die die Erwachsenen versperrt haben. Tamar Verete-Zehavi hat mit Ella eine Figur geschaffen, die sehr authentisch wirkt. Es liest sich wie ein Tagebuch, als gäbe es keine Autorin, sondern nur Ella ganz allein, die der Welt ihre eigene Geschichte erzählen möchte.
Mich hat der Roman außerordentlich beeindruckt. Es ist eines jener Bücher, die man nicht so schnell vergessen kann. Immer wieder sitzt du neben Ella und lauscht ihren Gedanken. Man möchte Ellas Hand nehmen und alle Fragen beantworten. Reden ist wichtig. Besser als schweigen. Und dass man auch aufeinander zu gehen kann, obwohl Stacheldraht dazwischen liegt, beweisen Helden wie Ella immer wieder. Mut und Zivilcourage kennen eben keine Grenzen.
PS: Es gibt diese mutigen Menschen auch im wirklichen Leben. Nicht oft, aber es gibt sie: Einer von ihnen wurde mit dem Hessischen Friedenspreis ausgezeichnet. Der Palästinenser Ismail Khatib hat 2005 seinen Sohn verloren, er wurde von israelischen Soldaten erschossen. Gemeinsam mit seiner Frau hat Ismail Khatib die Organe seines Sohnes als Spende für israelische Kinder freigegeben. Damit wollte er ein Zeichen des Friedens setzen. Im Schmerz hat der Palästinenser menschliche Stärke und außergewöhnlichen Mut bewiesen.